
Da hatte Intendant Alexander Steinbeis Recht, als er auf dem Podium des Max-Littmann-Saals die Mitglieder der Tschechischen Philharmonie begrüßte: Sie sind das Orchester, das von Anfang an, also seit 1986, zum Kissinger Sommer kam, wenn es auch immer mal eine Lücke gab. Bei ihm konnte man ganz gut Entwicklungen beobachten, vor allem in den unruhigen Jahren nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Eine der gravierendsten, die heute niemand mehr wahrnimmt: Die Tschechische Philharmonie war bei ihrem Debüt im Großen Saal noch ein reines Männerorchester. Da waren sogar die Berliner Philharmoniker schon weiter. Aber auch im katholischen Prag hat sich das längst geändert. Inzwischen gehören Frauen ganz selbstverständlich zum Orchester.
Nur in den Violoncelli und Kontrabässen merkt man noch die alte Geschlechterpolitik. Aber inzwischen gibt es mit Irena Jakubcová sogar eine Konzertmeisterin, und die vier Hörner wurden an diesem Abend von drei Frauen und einem Mann gespielt (gegen die Erwartungen der alten Hardliner übrigens ganz ausgezeichnet).
Chefdirigent fiel verletzungsbedingt aus
Natürlich war es schade, dass Semyon Bychkov, der Chef des Orchesters seit 2018, nicht kommen konnte, weil er vor kurzem schwer gestürzt war und die Horizontale noch nicht verlassen durfte. Manche hätten sich gerne Jakub Hruša, den ersten Gastdirigenten, als Einspringer gewünscht. Aber Petr Altrichter, Chef der Brünner Philharmonie, bot sich an, weil er nicht nur Zeit hatte, sondern auch das Orchester durch eine langjährige und regelmäßige Zusammenarbeit sehr gut kennt.
Warum das Konzertprogramm auf den Kopf gestellt war, war nicht zwingend zu erkennen. Denn es begann mit der 4. Sinfonie von Felix Mendelssohn-Bartholdy , nach der Pause gefolgt vom Klavierkonzert op. 43 von Antonin Dvorák. Und so wurde die Ouvertüre zu Giuseppe Verdis Oper „La forza del destino“ („Die Macht des Schicksals“) eben zur Fermeture. Sie endet ja auch dramatisch laut.
Arthur Nikisch und das Leipziger Gewandhausorchester haben diese umgedrehte Reihenfolge bei ihrer ersten Auslandstournee 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, in die neutrale Schweiz „erfunden“, und Herbert Blomstedt hat sie einmal in Erinnerung daran auch beim Kissinger Sommer praktiziert.
Und so begann das Konzert mit einer schwungvollen Einladung Mendelssohns in das Land von „La dolce vita“. Das Orchester zeigte sich bestens aufgelegt und musizierte mit vollem Engagement. Petr Altrichter erwies sich als ein Freund zupackender Tempi und starker dynamischer Kontraste.
Das Aushängeschild des Orchesters
Und trotzdem blieb die Musik immer wunderbar konturenscharf und durchhörbar; man konnte sich mal wieder über die böhmischen Streicher, aber vor allem über die böhmischen Bläser freuen. Die waren eigentlich schon immer das Aushängeschild des Orchesters.
So konnte eine kreative Unruhe des Aufbruchs und einer Nervosität entstehen, die man auch Reiselust nennen kann. Nur einmal, zu Beginn des dritten Satzes mit seinem nicht ganz einfachen Einstieg, entstand eine ganz kurze Tempoirritation. Denn Petr Altrichter hätte die Musik offenbar gerne eine kleine Spur schneller gehabt als das Orchester. Aber er war in der Minderheit.
Keine beliebten Melodien
Und dann das g-Moll-Klavierkonzert von Antonin Dvorák, dem Mann, der das meistgespielte Instrumentalkonzert der Welt geschrieben hat – und das ausgerechnet für das Instrument, das er gehasst hat: das Violoncello, das „unten brummt und oben schreit.“ Da hätte man von dem weniger verhassten Klavier (Dvorák war gelernter Bratscher) wahre Wunderdinge erwarten können. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Und jetzt wissen wir auch, warum wir dieses Konzert noch nie beim Kissinger Sommer hören konnten: Es ist absolut Dvorák-untypisch. Natürlich mussten die enttäuscht sein, die einmal mehr die beliebten böhmischen Melodien erwartet hatten.
Ein Kampf mit Akkorden
Aber es gab nicht nur die nicht, sondern überhaupt keine Melodien, die man mitsingen oder nachpfeifen könnte. Es war ein permanenter Kampf mit Akkorden und mit endlosen Wiederholungen. Dvorák hatte offenbar Angst gehabt, jemanden zu übersehen, und so beschäftigte er möglichst alle gleichzeitig.
Pianist war mit Umblättern beschäftigt
Auch den Pianisten . Bertrand Chamayou hatte auch im langsamen Satz kaum Gelegenheit, den Flügel ein bisschen zum Singen zu bringen oder in eine nachdenkliche Stimmung. Dafür können die Musiker natürlich nichts.
Und auch nicht dafür, dass es so gut wie keine Interaktion zwischen Tutti und Solo gibt, keine Dialoge mit einzelnen Instrumenten, weil beide Partien viel zu oft nebeneinander herlaufen.
Dazu kam aber, dass Bertrand Chamayou das Konzert möglicherweise erst für den Abend einstudiert hatte, denn er hing vor allem am Anfang noch sehr an den Noten, die er sich in den Flügel gelegt hatte, und war auch permanent mit Umblättern beschäftigt. So hatte er noch weniger Zeit, sich im kommunizierenden Sinn dem Orchester zuzuwenden. Das Konzert bleibt in Erinnerung als ein ziemlicher Klotz. Als Zugabe spielte Bertrand Chamayou das Petrarca-Sonett 104 von Franz Liszt – ein schöner Kontrast.
Dramaturgisch gut umgesetzt
Und schließlich als Rausschmeißer Giuseppe Verdis Ouvertüre zu „La forze del destino“. Petr Altrichter hatte das Wirken des Schicksals dramaturgisch gut umgesetzt: zunächst heiter, dann sich eintrübend, immer drängender, immer lastender bis zum krachenden Zusammenbruch. Das war noch einmal sehr konzentriert und engagiert musiziert.
Aber am Ende dachte man sich doch, dass da keine physische Kraft wirkt, sondern das „materiefreie“ Schicksal. Ein bisschen hätte man die Musik vielleicht doch in der Schwebe halten können und sie geheimnisvoller machen.
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