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Maßbach
Kollisionen und Groteskereien der Geschlechterrollen
Marcus Grisse hat sich Nikolai Gogols Erzählung "Newskij-Prospekt" als Vorbild genommen. Aber er hat die beiden Männerrollen mit einer Frau besetzt, alles geschickt arrangiert und in Szene gesetzt. Und Susanne Pfeiffer brillierte im Intimen Theater in Maßbach.
Die beiden Frauenrollen waren nur mit einer Schauspielerin besetzt: Susanne Pfeiffer war da genau die Richtige, die diesen Wechsel zunächst kaum merkbar, da absolut fließend, aber trotzdem spektakulär gestaltete. Foto: Sebastian Worch       -  Die beiden Frauenrollen waren nur mit einer Schauspielerin besetzt: Susanne Pfeiffer war da genau die Richtige, die diesen Wechsel zunächst kaum merkbar, da absolut fließend, aber trotzdem spektakulär gestaltete. Foto: Sebastian Worch
| Die beiden Frauenrollen waren nur mit einer Schauspielerin besetzt: Susanne Pfeiffer war da genau die Richtige, die diesen Wechsel zunächst kaum merkbar, da absolut fließend, aber trotzdem spektakulär gestaltete.
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 17.08.2022 16:05 Uhr

Man zuckt ja immer erst mal zusammen, wenn ein Theaterstück als Projekt angekündigt wird. Da hat man nicht immer die besten Erfahrungen gemacht, weil der Begriff weniger Aufbruch als vielmehr Unfertigkeit signalisiert. Und oft genug gibt es dann Hilflosigkeit oder Sozialkunde - oder beides. Warum sollen Arbeitslose Arbeitslose spielen? Warum etwas spielen, was sie ohnehin schon sind? Und wie? Abgesehen davon, dass sie ja arbeiten, wenn sie auf der Bühne im Kreis sitzen ... . (Schwamm drüber!).

So zuckte man auch jetzt erstmal zusammen, als aus dem Maßbacher Theater die Ankündigung kam, in der "Besonderen Reihe" im Intimen Theater werde es zu einer Aufführung des "Newskij-Projekts" kommen. "Aha!", denkt man sich, "etwas Russisches mit ewig langen Namen und jeder Menge nihilistischem Optimismus". Aber allmählich dämmert's. In Nikolai Gogols "Petersburger Novellen " gibt es doch eine Erzählung mit dem Titel "Newskij-Prospekt", der Prachtstraße des ehemaligen Zarensitzes an der Newa. Sollte sich da jemand bei der Dramatisierung des Prosatextes in das Wortspiel "Prospekt - Projekt" verguckt haben. Verheißungen sind in gewisser Weise ja beide. Volltreffer! Es geht tatsächlich um diese Erzählung .

Tägliches Treiben auf der Prachtmeile

Gogol beschreibt hier geradezu schwärmerisch-euphorisch das tägliche Treiben auf der Prachtmeile, den Wechsel der promenierenden sozialen Gruppen im Verlauf des Tages. Und er hat eine zweisträngige Handlung mit zwei geradezu schablonenhaft typischen Figuren - oder auch Männern - eingebaut: Da ist zum einen der schwärmerische Künstler Piskarjow aus der Ecke des Prekariats und zum anderen sein Freund, der Leutnant Pirogow aus der Ecke der Arroganz scheitern auf der Jagd nach der großen Liebe kläglich, weil die Frauen, die sie ins Visier genommen haben, vollkommen anders sind, als sie sich vorgestellt haben. Und sie landen auf dem harten Boden der Tatsachen, beziehungsweise verlieren, wie Piskarjow, den Verstand. Wenn es den Begriff gäbe, könnte man den Text "Salonnovelle" nennen, ein Stück Literatur, das zu seiner Zeit, also 1835, erstaunlich modern war, aber heute nicht mehr wirklich interessiert.

Männer durch Frauen ersetzt

Aber das täuscht. Denn der Sprach- und Literaturwissenschaftler Marcus Grisse, der das Stück auch inszeniert hat, hat zu einem Modernisierungstrick gegriffen: Er hat die beiden Männer durch zwei Frauen ersetzt: die schüchterne, höchst erfolglose, leicht aus der Fassung zu bringende Malerin , die einen schönen Mann - sie hat halt einen Blick dafür - im Trubel auf dem Prospekt entdeckt, ihn verfolgt, ihn im Trubel der Straße und später der Gesellschaft wieder verliert, von ihm angelockt und zurückgestoßen wird. Der es aber besser ergeht als bei Gogol: Sie verliert nicht den Verstand, sondern fällt plötzlich aus einem Traum zurück in ihre quälende Realität. Und da ist die herrische, wirkungssüchtige Lebedame (Namen haben die beiden Frauen nicht), die sich einen blonden jungen Mann sucht und dabei an den Haushaltswarenhändler stößt, einen ziemlich naiven Trottel, der nicht merkt, wie er ausgenützt werden soll. Als sie sich über ihn hermachen will, taucht natürlich seine Frau auf: ausgerechnet die verhasste Nachbarin Schiller, die ihr mit Hilfe ihrer Freundin Hoffmann eine gesalzene Tracht Prügel mit auf den Heimweg gibt. Dumm gelaufen, reingefallen, aber was soll's! Sie kann sich die Arroganz leisten. Sie bricht wieder auf zur Jagd.

Grisse hat das alles geschickt arrangiert und in Szene gesetzt. Auch wenn die beiden Geschichten an sich absolut betrachtet nicht der allergrößte Brüller sind, transportieren sie allein schon durch den Mann-Frau-Tausch eine enorme Menge an Kollisionen und Groteskereien der Geschlechterrollen . Die Malerin weiß, dass sie im zaristischen St. Petersburg schon deshalb zur Erfolglosigkeit verdammt ist, weil malende Frauen - die davon leben wollten - eine absolute Realität waren. Und die Arrogante weiß, dass sie auffallen muss, um Erfolg beanspruchen zu können, etwa durch das Rauchen von Zigarillos oder den Kauf eines überteuerten Humidors.

Zwei spannende Monologe

Zudem sind es zwei spannende Monologe geworden, die Gesprächssituationen natürlich darstellen müssen, wenn sie nicht auf geschickte Einspielungen aus dem Inneren oder dem Off reagieren können.

Vor allem aber sind die beiden Frauenrollen nur mit einer Schauspielerin besetzt - eine Entscheidung, die das Spiel für die Darstellerin schwierig macht, aber für das Publikum spannend. Susanne Pfeiffer war da genau die Richtige, die diesen Wechsel zunächst kaum merkbar, da absolut fließend, aber trotzdem spektakulär gestaltete. Wie mit einer Lupe ging sie an die Eigenheiten der beiden Frauen, an die äußeren Verhaltensweisen, an die inneren Verwerfungen, Hoffnungen und Ängste heran. Und sie schaffte es, mit professioneller Ruhe und genau auskalkulierter Mimik, Gestik und Stimme die ganzen Spannungen und Getriebenheiten, die Hoffnungen und Fantasien der beiden Frauen erfahrbar und durchaus auch nachvollziehbar zu machen. So bekamen die beiden große Glaubwürdigkeit. Und der Text musste eine ganze Menge Aufmerksamkeit der Zuschauer an die Gestaltung abgeben. Denn die war wirklich spannend.

Genügend wichtige Fragen

"Wie blonde Männer wohl am liebsten sterben?", war der allerletzte Satz der Arroganten und des Stückes. Gut, das ist eine Frage, die vor allem die "Blondiner unter den Männern " (ist das gendergerecht?) umtreiben dürfte. Aber es blieben genügend andere wichtige Fragen für alle Glatzköpfe und solche, die es werden wollen. Wirklich schade, dass es (coronabedingt ausnahmsweise) nur zwei Aufführungen gab.

 
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