
Nach 1789 zerbrechen in Europa und darüber hinaus die alten Welten. Die Französische Revolution hat sämtliche Koordinaten im politischen Kosmos verschoben. Das Königshaus wird geköpft, alle hergebrachten Gewissheiten kommen auf den Prüfstand, selbst der Kalender wird neu geordnet.
Während Adel, Bürger und Bauern im beschaulichen Völkershausen im Grabfeld am 8. Juni des Jahres 1794 zum Pfingstsonntags-Gottesdienst gehen, schreibt man in Paris den 20. Prairial des Jahres 2. Maximilien de Robespierre leitet die offiziellen Veranstaltungen zum Fest des höchsten Wesens in den Tuilerien und auf dem Marsfeld. Der Kult feiert die Freiheit der Religion, vor allem aber Tugend, Bürgerpflichten und die sinnlich erfahrbare Natur.
Erste Stellung in Waltershausen
All das erfährt man in Völkershausen erst Tage später. Zu Pfingsten 1794 gibt es hier im Steinschen Schloss Besuch: Die Familie der Charlotte von Kalb aus Waltershausen ist gekommen. Mit dabei: der 24 Jahre alte Hauslehrer und Dichter Friedrich Hölderlin . Der hatte im vergangenen Dezember sein Studium der Theologie abgeschlossen und war nicht allzu begeistert von dem Gedanken, nun Pfarrer werden zu müssen. So vertröstete er das Konsistorium und trat - auf eine Empfehlung Friedrich Schillers hin - in Waltershausen seine erste Stellung an.
Hölderlin nimmt Anteil an den politischen Umwälzungen, begrüßt die Revolution, seine Radikalität äußert sich jedoch im eher innerlichen Sinne, er setzt den Ansprüchen der Vernunft die Gebote der Emotionalität entgegen. Poesie soll die Revolution nicht nur begleiten, sondern wesentlich dazu beitragen, die gravierenden Veränderungen im Sinne des Humanismus zu ordnen und auszugestalten.
Einwöchige Tour durch die Rhön
Am Pfingstmontag 1794 startete Hölderlin von Völkershausen aus zu einer etwa einwöchigen Tour durch die Rhön in Richtung Fulda und zurück. Es gibt dazu nur wenige Hinweise in Briefen , aber von Völkershausen aus musste er erst einmal in Richtung Ostheim laufen. Hier, am Fuße der die Landschaft dominierenden Lichtenburg, fand er bei Charlottes Verwandtschaft im Marschalken-Schloss sicher Aufnahme. Hölderlin war ein ausgezeichneter Wanderer, er schaffte locker bis zu 50 Kilometer am Tag, aber es ging ihm in der Rhön natürlich nicht um die möglichst schnelle Bewältigung einer Etappe, sondern um das Erlebnis der Einsamkeit und das Sammeln von Eindrücken.
Stetig hinauf in die Lange Rhön
Von Ostheim aus führt der Weg in Richtung Nordheim/Grabfeld - hier hat der Wanderer immer die Höhenlinien des Mittelgebirges vor Augen. Und dann geht es an Gangolfsberg und Rother Kuppe vorbei stetig hinauf in die Lange Rhön.
Man weiß nicht, welche Route Hölderlin genommen hat, aber wenn er in Richtung Wasserkuppe marschieren und abends ein Dach über dem Kopf haben wollte, dann musste sein Tagesziel Wüstensachsen sein. Das ist von Ostheim aus etwa 22 Kilometer entfernt, also an einem Tag gut zu schaffen. Der Weg an Heidelstein und Schornhecke vorbei empfahl sich, denn durch das verzweigte feuchte Quellgebiet des Elsbaches und die Moore der Rhön gab es kaum feste Wege.
Als gesichert kann gelten, dass Hölderlin auf der Wasserkuppe war, Pferdskopf und Milseburg gesehen hat und dann weiter an der Steinwand vorbei in Richtung Fulda gelaufen ist. Denn in seinem Brief an G.W.F. Hegel (1770 - 1831) vom 10. Juli 1794 nach Bern schreibt er über "kolossalische Höhen" in der Rhön und schwärmt von "fruchtbaren reizenden Tälern". Höhenzüge, die ihn entfernt an die "Schweizerberge" erinnern konnten (er kannte die Alpen tatsächlich) gibt es am ehesten in diesem Bereich der Rhön.
Schwelgen in Superlativen
Auch heute schwelgen Besucher der Rhön gerne in Superlativen. Gleichwohl muss die Rede Hölderlins von den "kolossalischen Höhen" und der triviale Täler-Gegensatz als etwas überspannt erscheinen. Gründe hierfür lieferte sein seelischer Zustand in diesen Monaten, Hölderlin war innerlich zerrissen: Als Erzieher des Kalbschen Sohnes Fritz war er mehr oder weniger gescheitert, eine alte Liebe im fernen Schwabenland war erkaltet. Sein Berufsziel hatte er noch nicht klar definiert: Die Philosophie und die Poesie beschäftigten ihn gleichermaßen. Er studierte in seiner fränkischen Zeit die aktuellen Texte von Schiller, Kant und Fichte, las aber auch Platon und schwärmte vom Griechentum.
Hölderlin wollte im Juni 1794 weg aus dem Grabfeld: Im gar nicht so weit entfernten Jena pulsierte der Geist. Dort fand die aktuelle Philosophie statt, mit Fichtes Theorie des Ich ging dort gerade die Sonne des Deutschen Idealismus auf. In Jena lebten und wirkten zudem die meisten der maßgeblichen deutschen Dichter . Wenige Monate später sollte er endlich dorthin gelangen.
In Franken war Hölderlin 1794 nicht müßig: Ein schriftstellerischer Erstlingserfolg bahnte sich mit seinem Hyperion-Fragment an, ein Stoff, mit dem er sich seit dem Frühjahr 1794 befasste. Schiller druckte den Text sowie das Gedicht "Das Schicksal" in seiner Zeitschrift "Neue Thalia" ab. Eines von Hölderlins Themen: sich mit Natur innerlich eins fühlen, der Zwiegespaltenheit entgegenwirken. In dem Nebeneinander, das in der Natur vorherrscht, vom menschlichen schnellen Nacheinander Ruhe finden. Natur dachte sich Hölderlin jenseits des Vorgefundenen und Gesehenen. Auch im Hyperion-Fragment zeigt sich: Der Dichter liebt die Abstraktion, die sich im Grandiosen offenbart, gestaltet die Landschaft poetisch um.
Urteil über Rhöner Menschen
Auch über die Menschen der Rhön fällte Hölderlin nach seiner Wanderung ein Urteil: Die "Bergbewohner" seien "wie überall etwas barsch und einfältig". Aber er nimmt die Schelte gleich wieder zurück, denn: "Übrigens mögen sie manche gute Seite haben, die unsere Kultur vertilgt hat." Das reflektiert erneut sein Thema: der einfache Naturzustand und die rationale Überformung des Menschen in der Gesellschaft.
An Fulda gefiel ihm die "recht liebliche Lage", insgesamt freuten ihn in der Rhön die "zerstreuten Häuserchen am Fuße der Berge, im Schatten der Tannen, unter Herden und Bächen". Ein dichterisches Idyll, das den harten Gegebenheiten in der Rhön von damals sicher nicht gerecht wird. Zurück von seiner "kleinen Exkursion ", wie er an Hegel schrieb, sah er sich wieder mit seiner unglücklichen Lage in Waltershausen konfrontiert, er wollte hier nicht bleiben, auch wenn er am 1. Juli beruhigend an seine Mutter schrieb: "Die Motion auf dem Rhöngebirge und im Fulderland ist mir sehr gut bekommen."
Höllengeister und Luftgeister
Inwieweit er sich im zweiten Halbjahr 1794 in eine mögliche Liebschaft verwickelte, der sogar ein Kind entsprungen sein könnte, war und bleibt spekulativ. Als Erzieher verzweifelte er zunehmend. Gut zwei Jahre später klagte er rückblickend in einem Brief an Hegel (20.11.1796) über "die Höllengeister, die ich aus Franken mitnahm", aber ebenso über die "Luftgeister", die er später in Jena kennenlernen sollte.
Während im Juni 1794 in der Rhön Hölderlins Kopf einerseits von der überreichen Natur schwärmte und weiterhin für die Französische Revolution glühte, trat im hitzigen Paris die Revolution in ihre Schreckensphase. Täglich wurden nach Pfingsten 1794 gemäß dem Prairial-Dekret mehr Terror-Urteile gefällt und Köpfe abgeschlagen. Am 28. Juli auch der von Robespierre.