Es gibt ja viele bunte Vögel unter dem weiten Himmel des Klavierjazz. Aber einer ist besonders bunt, hat eine gewisse Art von Alleinstellungsmerkmal: die Koreanerin Younee. Denn bei ihr kommt zu einer geradezu sensationellen Spielfertigkeit eine enorme Fantasie und die Tatsache, dass man sie nicht einordnen kann, dass sie auch nicht unter einem bestimmten Label vermarktet werden kann.
Denn sie scheint das Problem zu haben, das Überbegabte häufig haben: Sie kann alles, nur nicht sich festlegen, sich spezialisieren. Sie betreibt ein „Crossover“ in alle erdenklichen Richtungen zwischen Freeclassic und Free Jazz, Rock, Pop, Blues, Stride und anderen Delikatessen.
Wer in ihre Konzerte kommt, weiß nicht, was ihm geboten wird – selbst wenn es gelegentlich sogar gedruckte Programme gibt. Aber er weiß immer, dass das eine höchst spannende und vergnügliche Zeit wird.
Enorme Bewegungsfreiheit und Freiheit der Fantasie
Man ist ja schon von Anfang an gefangen von ihren spieltechnischen Fähigkeiten, von der enormen Beweglichkeit der Finger, von ihrer Treffsicherheit auch dann, wenn es eng wird – also meistens, von ihrem ziemlich kraftvollen Anschlag, den sie offenbar ganz bewusst wählt – wirklich leise Passagen gibt es so gut wie nie, aber man vermisst sie auch nicht.
Kein Wunder, denn Younee hat nicht nur eine umfassende Jazz-Ausbildung genossen, sondern auch klassisches Klavier mit Abschluss studiert. Das gibt ihr eine enorme Bewegungsfreiheit – und Freiheit der Fantasie .
Tiefe Töne bevorzugt
Ihr Spiel ist ja auch ein bisschen anders. Sie scheint einen ganz persönlichen Zu- und Eingang in ihre Musik entwickelt zu haben. Denn wenn sie zu spielen, auch zu improvisieren beginnt, dann scheint sie nicht von einer Melodie auszugehen, sondern von rhythmischen Strukturen, die Stimmungen genauso spiegeln können.
Denn die meisten ihrer Stücke beginnen mit einer hervorstechend kräftigen linken Hand, die im Laufe des Spiels auch keine Anstalten macht, sich zurückzuziehen. Die rechte Hand kann dann sozusagen machen, was ihr einfällt.
Wobei auffällt, dass sie offenbar eine starke Affinität zu den tiefen Tönen hat. Denn überwiegend bewegt sie sich mit ihrem Spiel im linken Bereich der Tastatur. Diskantgeklingel scheint nicht ihre Sache zu sein.
Überraschende Varianten ohne Wiederholungen
Was mindestens ebenso begeisternd ist, sind ihre improvisatorischen Fähigkeiten, ist ihr Umgang mit dem thematischen Material. Sie braucht keine Anlaufphasen, sie bringt immer wieder überraschende Varianten und kann gut auf Wiederholungen verzichten, die sie nur bräuchte, weil ihr gerade nichts einfällt.
Sie begibt sich in die harmonisch und rhythmisch kompliziertesten Gefilde, dass man sich fragt, wie sie da jemals wieder herauskommen will. Aber sie schafft es immer mit höchst plausiblen Lösungen. Dass manche der Stücke auch einen Titel haben wie „Ausflug“, ist unerheblich.
Denn was sich Younee da in Erinnerung an einen Waldspaziergang überlegt hatte, war erstaunlich kraftvoll für eine Umgebung, in der man eigentlich Vogelgezwitscher und Blätterrauschen erwartet hätte. Aber absolut gehört, war das fantastische Musik.
Wenn sie dazu dann auch noch singt mit ihrer Jazzstimme wie bei „We belong“ oder „Your blue eyes“, hat man keine Bedenken, Musik und Inhalt zusammenzubringen.
Hummelflug und Summertime
Eines ihrer Markenzeichen sind die Improvisationen, in denen sie Vorschläge aus dem Publikum aufgreift und mit großem Charme umsetzt. Etwa „Hummelflug“ und „etwas mit Sommer“.
Natürlich hatte Younee den „Hummelflug“ drauf, und sie fegte so schnell durch das Thema und ihre Variationen, dass sie jede Hummel abgehängt hätte. Aber plötzlich schlich sich ein Lied ein: „Summertime“, das eine tolle Kombination ergab. Und als sie noch dazu sang, war die Sache vollends rund.
Freeclassic durfte nicht fehlen. Bei „dream in the Dream“ legte Younee ihrer Improvisation Claude Debussys „Rêverie“ zugrunde und verdichtete ihren impressionistischen Geist.
Aber worauf man natürlich besonders gespannt war, war „Fate blues“, weil man hier ja doch, zumal Ludwig van Beethoven als „Co-Komponist“ genannt war, die berühmten vier Schläge der 5. Sinfonie, der „Schicksalssinfonie“, erwartete. Völlig zu Recht. Und es war höchst witzig, wie Younee die Sache anging.
An musikalischen Türen gerüttelt
Sie sah in dieser Sinfonie offenbar eine mächtige Burg, zu der sie einen Zugang suchte, indem sie sie umkreiste und an mehreren verschlossenen Türen rüttelte – zunächst mit stockenden Einzeltönen. Dann zunehmend mit Akkorden – bis eine Tür nachgab, und sie hindurch stürmte. Und dann gab’s Zunder für Beethoven .
Die Zugabe war der Vorliebe geschuldet, die die Südkoreaner für die deutsche Romantik haben. Das Lied hatte Younee schon als Kind in Seoul kennengelernt (heute lebt sie übrigens in Würzburg), und es hat sie nicht mehr losgelassen: Felix Mendelssohn Bartholdys „Auf Flügeln des Gesanges“.
Da wurde sie in der Begleitung ihres Gesanges geradezu delikat. Bis zu ihrem nächsten Konzert in Bad Kissingen sollte es nicht wieder sechs Jahre dauern.
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