
Nein, auch wenn sie so spielen: Eineiige Zwillinge sind Lucas und Arthur Jussen nicht. Lucas, der Ältere, wurde am 27. Februar 1993 im nordholländischen Hilversum geboren; sein Bruder Arthur ließ sich damit dreieinhalb Jahre länger Zeit. Er wird im September 26. Das ist also geklärt. Fragt sich nur: Wer ist wer?
Das Problem ließe sich ja leicht mit gut lesbaren Namensschildern auf den beiden Flügeln lösen. Aber das ist bisher noch nicht üblich. Rausbekommen kann man es trotzdem. Der von den beiden, der, wenn sie vor ihren Tastaturen sitzen und spielen, jünger aussieht, ist Lucas, der Ältere. Also der, der sich zum Schluss ans Publikum gewandt hat.
Klavierduos scheinen in diesem Jahr der große Renner zu sein. Schon Yaara Tal und Andreas Groethuysen mit Begleitern hatten für einen ungewohnt vollen Rossini-Saal gesorgt. Bekanntheit schadet nicht. Und deshalb war auch am nächsten Vormittag der Saal rappelvoll, als die Jussens auf die Bühne kamen. Durch ihre Medienpräsenz konnte man wissen, was zu erwarten war.
Und in der Tat: Was die beiden ablieferten, war auch für jemanden, der mit Superlativen gerne sparsam ist, geradezu sensationell. Die beiden haben zu einer Übereinstimmung und Perfektion im Zusammenspiel gefunden, die sich nicht mehr erhöhen lässt. Sie müssen sich nicht mal mehr über die Flügel hinweg verständigen. Jeder schein für sich allein zuspielen und ist doch haargenau bei dem anderen. Das haben sie wohl weniger von ihrer Mutter, die ihren Kindern das Flötespielen vermittelte (Gottseidank haben sie nicht...). Sondern das muss von ihrem Vater kommen, der im Radiophilharmonieorchester Hilversum als Schlagzeuger Musik macht. Der wird wohl darauf geachtet haben, dass seine Buben immer auf die Eins kommen. Und natürlich von Jan Wijn, dessen Studenten sie waren beziehungsweise noch sind.
Aber es waren ja nicht nur ihre phänomenalen technischen Fähigkeiten, die sie in einem erstaunlichen Gleichschritt entwickelt haben, sondern auch ihre interpretatorischen Ansätze. Schon Mozarts D-dur-Sonate für zwei Klaviere klang überraschend anders als gewohnt. Denn die Jussens deuteten das Allegro con spirito in ihrem eigenen Sinn: Mit einem köstlich krawalligen Zugriff spielten sie frech auf Vortrieb, auf Konfrontation, wirbelten sie den Staub hinweg. Das war kein gemütliches Musizieren, sondern eine höchst kreative Konfrontation. Aber andererseits entwickelten sie in der Langsamkeit des Andantes eine wunderbare sangliche Ruhe, die in lang ausmusizierten Bögen trotzdem ihre Spannung behielt.
Und sie gestalteten zum Schluss mit ihrem klaren Anschlag und kleinen Ironisierungen und mit belauernden kleinen Pausen einen fetzigen, mitreißenden Türkischen Marsch. Das war so animierend, dass man die beiden mit diesem Werk gerne auch mal an Klavieren der Mozart-Zeit gehört hätte - wenn sie es aushalten.
Auch bei Franz Schuberts vierhändigem Allegro a-moll D 947 konnten die Jussen-Brüder - was selten geschieht - klar machen, warum dieser Satz den Beinamen "Lebensstürme" bekam. Da zeigten sie keinerlei Berührungsängste und verweigerten sich dem kompromisslerischen Bild vom "bedauernswerten Franzl". Da machten sie hörbar, wie viel Psychologie in dieser Musik steckt, wie viele Konflikte sich da erkennen und darstellen lassen - und wie notwendig in diesem inneren Tumult Momente des Innehaltens für Träume von einer besseren Welt sind.
Und weil die Brüder so dezidiert plastisch spielten, fiel umso mehr auf, in welch heiler Welt Felix-Mendelssohn-Bartholdy gelebt haben muss, die sich in dem Andante und Allegro Brillante op. 92 in romantischer Liedhaftigkeit und Wohlklang spiegelt. Aber die Jussens wären nicht die Jussens, wenn sie nicht Ansatzmöglichkeiten für eine welthaltige Modernisierung gefunden hätten, wenn sie nicht Kanten geschärft, Tempi agogisch spannend variiert oder überraschende Klangfarben entwickelt hätten.
Ja, und dann "Le Sacre du Printemps" in Igor Strawinskys eigener Fassung für zwei Klaviere. Man ahnte ja schon, was kommen würde und wurde trotzdem überrascht. Lucas und Arthur Jussen wussten ganz offensichtlich darum, dass ein Frühling in Russland kein heiteres Ereignis ist wie bei Vivaldi, sondern zu Strawinskys Zeit, als der Permafrost noch nicht auf dem Rückzug war, eine hochdramatische Zeit war mit krachenden Eisschollen auf den Flüssen und einer im Matsch des auftauenden Schnees versinkenden Landschaft. Und diese Urkräfte vermittelte plötzlich die Musik.
Es war schon eine enorme athletische Leistung, die die beiden Brüder vollbrachten, aber es war auch ein ziemlich gnadenloser Zugriff, mit dem sie diese "Bilder aus dem heidnischen Russland" in die Tasten meißelten, wie ein einfacher Triller plötzlich beängstigende Kräfte entwickelte, wie die Aggressivität plötzlich durch eine kleine, entrückte Melodie ausgebremst wurde, die umgehend wieder unterging.
Wer Strawinskys Programm liest, könnte meinen, dass es sich bei diesem "Sacre", diesem "Opfer" um eine harmlose Veranstaltung von jungen Mädchen und weisen Männern handelt. Aber die Jussens haben deutlich gemacht, was Strawinsky in diese Musik hineinkomponiert hat und was immer, wenn auch manchmal im Hintergrund, präsent ist: Die Brutalität der archaischen Wurzeln dieser Zeremonie. Man konnte nur staunend zuhören und sich durchschütteln lassen.
In dem Fall war die Zugabe tatsächlich wichtig, um wieder auf den Boden des Rossini-Saals zurückzufinden: Die vierhändig bearbeitete Arie "Schafe können sicher weiden" aus Johann Sebastian Bachs Kantate "Was mir behagt, ist die muntre Jagd" BWV 208 - ein absoluter Kontrast.