Beim Kissinger Sommer scheint sich zunehmend ein Kammermusik-Publikum zu finden, wenn man die Füllstände des Rossini-Saals betrachtet. Dass er ausverkauft war, hat es in der Vorcoronazeit eigentlich nicht gegeben. Allerdings konnten die Angebote auch da Interesse mobilisieren wie jetzt am Nachmittag des letzten Festival-Samstags: Die Geigerin Julia Fischer war mit vier Kollegen gekommen: Alexander Sitkovetsky (Violine), Nils Mönkemeyer (Viola), Friedrich Thiele (Violoncello) und William Youn (Klavier). Und mit einem Programm, das nicht nur zwei Monumente der Kammermusikliteratur enthielt, sondern auch zwei Kuriositäten.
Die erste gleich zu Beginn: Antonín Dvořáks "Maličkostí" oder auch "Bagatellen" - ein Name, den die fünf Sätze nicht zu Unrecht tragen. Denn er schrieb sie für die Hausmusik bei einem Nachbarn, der offenbar im Besitz eines Harmoniums war, denn die Originalbesetzung sieht es vor neben zwei Violinen und Violoncello (Nils Mönkemeyer musste also noch warten). Heute wird es gerne der Einfachheit halber durch ein Klavier ersetzt, was kein Nachteil ist, denn das gibt der Musik stärkere Konturen. Und Dvořák hatte natürlich die Zielgruppe im Auge.
Die ersten beiden Bagatellen sind getragen von einer harmlosen kleinen Melodie beziehungsweise einer chromatischen auf- und absteigenden Linie. Aber dann muss er gemerkt haben, dass er etwas mehr verlangen sollte, und er schraubte die Anforderungen nach oben. Und das Quartett machte daraus Musik mit einer höchst abwechslungsreichen Dynamik und kleinen dramatischen Ausbrüchen, allerdings immer geschickt darauf achtend, dass in die Musik nicht mehr hineingeheimnisst wird, als drin ist.
Alles andere als kurios war das zweite Werk, das berühmte Klavierquintett von Alfred Schnittke, das er schrieb, als seine Mutter und auch Dmitri Schostakowitsch gestoben waren. Das ist durchgehend derart schwermütig, dass Nils Mönkemeyer sich genötigt sah, das Publikum vorzuwarnen: "Wenn Sie nach 22 Minuten das Gefühl haben, dass es jetzt zu viel wird, dann hat die Musik ihr Ziel erreicht." In der Tat ist diese Musik, die sich jeder Melodie verweigert, nicht ganz einfach zu ertragen. William Youn begann tastend, zögernd, erzeugte mit langen Nachhall-Überlagerungen eine fahle, beklemmende Stimmung.
Als die vier Streicher einsteigen, hellt sie sich keineswegs auf. Im Gegenteil: Mit Klangflächen oder Clustern, die keinerlei vertraute Harmonien zum Festhalten bieten, sondern mit enormen Reibungen, Vierteltonintervallen und toten, vibratolosen Tönen noch ein enormes Gewicht drauflegen - durch mehr oder weniger das gesamte Werk.
Wenn im zweiten Satz mal Walzeranklänge auftauchen, wirken sie nicht als Aufheller, sondern man denkt sofort an Totentanz. Erst ganz zum Schluss taucht im Klavierdiskant eine kleine, berühmt gewordene Melodie, die die Streicher übernehmen. Und plötzlich ist auch das lebendige Vibrato wieder da.
Bei aller Schwermut kam man nicht umhin, die vier Streicher - das Klavier kann ja nur die Töne spielen, die es hat - zu bewundern für die Präzision, mit der sie ihre Ganz-, Halb- und Vierteltöne aushorchten und zusammenfügen, welch enorme Konzentration sie dafür ohne größeres Auslassen aufbringen mussten. Und für die Intensität, mit der - jetzt alle fünf - sie mit dynamischen und klangfarblichen Veränderungen die lastende Stimmung, nicht zuletzt mit dem wiederkehrenden Herzschlagmotiv, vermittelten.
Die andere Kuriosität war Franz Schuberts berühmt-berüchtigtes "Notturno" für Klaviertrio , ein Satz, den er möglicherweise für sein B-dur-Trio op. 99 komponierte, dann aber mangels angemessener Substanz wieder zurückgezogen und nie mehr angefasst hat. Dass es als Zugabenstück überlebt hat, verdankt es dem Wiener Verleger Anton Diabelli , der es nach Schuberts Tod herausbrachte.
Die Substanz besteht letztlich aus zwei Minithemen, die in ständigen Wiederholungen zu Tode geritten werden. Da helfen auch die ständigen, Vierstimmigkeit vortäuschenden Doppelgriffe in der Violine nicht. Und da half es auch nicht, dass Alexander Sitkovetsky, Friedrich Thiele und William Youn durch starke dynamische und auch agogische Kontraste die Musik ein bisschen interessanter machten. Irgendwann wünschte man sich dann doch das auf sich warten lassende Ende. Wie war das mit "Schuberts himmlichen Längen" (R. Schumann)?
Der kam übrigens als Letzter zu Wort, mit seinem berühmten Klavierquintett Es-dur op. 44. Wer von der Musik die Erfüllung eines Unterhaltungsauftrags erwartet, war hier aller bestens bedient. Nicht nur, weil das ein Werk voller facettenreicher Themen in einer kreativen und zugleich handwerklich höchst sorgfältigen Ausarbeitung ist, sondern weil die Fünf in höchst demokratischer Gleichberechtigung jede Stimme zu Wort kommen ließen und weil sie bei den Tempi immer an die Obergrenze der Schumann"schen Spielvorschriften gingen wie etwa im Scherzo mit seinen hinaufeilenden Girlanden und seinen türkisch aromatisierten Zwischenspielen. Aber auch erzählend gestalteten, wie bei dem balladesken Rahmen des zweiten Satzes. Sie entfachten einen Vortrieb, den man nur als allerbesten Sturm und Drang bezeichnen konnte. Und sie machten ihr Publikum atemlos, während sie selbst ständig über ihr Treiben lächelten.
Beim letzten Satz ging ihnen die Spielfreude dann aber doch ein bisschen durch. "Allegro ma non troppo" hatte Schumann ausdrücklich über diesen Satz geschrieben. Aber dieses "ma non troppo" wurde schlichtweg ignoriert. Offenbar wollten die Fünf nicht in die Nähe oder in den Verdacht der Betulichkeit geraten. Und da fetzten sie los, dass die von Schumann mühsam gebastelte Schlussfuge schon vorbei war, bevor sie so recht begonnen hatte.
Großartig! Eine Zugabe war da wirklich nicht mehr nötig.