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Bad Kissingen
LiederWerkstatt im Kissinger Sommer: Für jeden war etwas dabei
Die LiederWerkstatt beim Kissinger Sommer bescherte den Zuhörern ein abwechslungsreiches Konzert, bei dem musikalisch in das vergangene Berlin zurückgeblickt wurde.
Kissinger Sommer: Peter Schöne Jan Philip Schulze.       -  Peter Schöne  mit Pianist Jan Philip Schulze.
Foto: Gerhild Ahnert | Peter Schöne mit Pianist Jan Philip Schulze.
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 27.07.2024 02:42 Uhr

Auf die diesjährige Kissinger LiederWerkstatt konnte man wirklich gespannt sein, denn dieses Mal ging es nicht um dichtende Heroen, die im Mittelpunkt standen und zu vertonen waren, sondern das Motto des Festivals: „Ich hab noch einen Koffer in …“ Und da man das „Berlin“ fast reflexhaft weiterdachte, dass das Programm nicht durchgehend gar so ernst werden würde. Und das wurde es auch nicht. Sogar vertonte Berliner Schnauze war zu hören.

Unbekannte Lieder und Komponisten

Werkstattchef Axel Bauni muss wie ein Besessener in den Notenbibliotheken und Archiven gewühlt und gegraben haben, denn er wurde fündig. Und so tauchten in den Programmen der beiden Konzerte nur zwei der erwartbaren Komponistennamen mit jeweils einem Lied auf: Franz Schubert und Richard Strauss . Ansonsten waren es fast durchwegs Lieder , die man noch nie gehört hatte, zum Teil von Komponisten und Komponistinnen, die man auch noch nie gehört hatte wie Max Butting, Grete von Zieritz , Reiner Bredemeyer oder Philipp Maintz. Und auch wenn nicht in jedem Lied der Name „Berlin“ auftauchte, hatten sie doch alle in irgendeiner Form einen Bezug zu der Millionenstadt und ihren vielen Facetten. Und es entstand ein tolles Spektrum der Berliner Befindlichkeiten.

Viele talentierte Musiker auf der Bühne

Wie üblich, hatte Axel Bauni sechs Komponistinnen und Komponisten eingeladen (in alphabetischer Reihenfolge): Marta Gentilucci, Christian Jost , Daria Pavlotskaya, Steffen Schleiermacher , Manfred Trojahn und Ying Wang. War es Zufall, dass im ersten Konzert die drei Männer und im zweiten Konzert die drei Frauen mit ihren Uraufführungen zu Wort kamen? Oder wollte man nur das Gendern vermeiden? Auf jeden Fall wurden auch in diesem Jahr nicht nur die sechs Kompositionsaufträge von der Anton-und-Katharina-Schick-Stiftung finanziert.

Die Interpretierenden waren die Sopranistinnen Katrīna Paula Felsberga (sie war im letzten Jahr das erste Mal dabei) und Sarah Maria Sun, eine ausgewiesene Expertin für Neue Musik, die ebenso wie der Tenor Michael Pflumm ihr Debüt gab. Und nach längerer Pause war auch der Bariton Peter Schöne wieder angetreten. Mein Gott, hat der durch seine Operntätigkeit stimmlich gewonnen! Am Flügel saßen die üblichen Verdächtigen: Axel Bauni, Steffen Schleiermacher und Jan Philip Schulze. Früher war noch Siegfried Mauser dabei. Aber der war schon die beiden letzten Jahre in anderer Sache verhindert.

Ergreifende Texte

Christian Jost eröffnete den Reigen der Uraufführungen mit  Drei Liedern auf Gedichte von Mascha Kaléko für Sopran und Klavier: „In dieser Zeit“, „Unter fremden Dach“ und „Die frühen Jahre“. Es sind pessimistische Texte („…und unser Leben ist ein Nochnichtsterben“) voller Ungewissheit, die überraschend enden: „Zur Heimat erkor ich die Liebe.“ Die Texte wirken wie persönliche, sehr direkt berichtete Erinnerung der Dichterin. Und Katrīna Paula Felsberga und Axel Bauni gestalteten diese Direktheit mit hintergründiger, aber auch sehr engagierter Intensität und machten deutlich, dass es Christian Jost nicht um vordergründige Effekte, sondern um die Begleitung der Emotionen ging.

Berlin von all seinen Seiten

Manfred Trojahn hatte „Fünf Berliner Skizzen“ vertont, die Michael Krüger für ihn geschrieben hat: Skurriles, Anekdotisches, Bedenkliches aus dem Kiez. Und man konnte sich nicht des Eindrucks erwehren, den Peter Schöne und Jan Philip Schulze vermittelten: dass Manfred Trojahn die Vertonung Spaß gemacht haben muss, denn er komponierte direkt an den Texten entlang – vom Parlando über witzige Stakkato-Passagen bis zu hysterischen Ausbrüchen, von düster bis versponnen. Da war Berlin mit seinen Originalen plötzlich ganz nah.

Das war es auch bei Steffen Schleiermacher und seinem „ Berliner Ring “, fünf Chansons für Tenor und Klavier. Was nicht ganz stimmt, denn man kann eigentlich nur die drei vertonten Gedichte von Kurt Bartsch als Chansons bezeichnen. Matthias Pflumm und Schleiermacher selbst hatten den Job übernommen (authentischer geht’s nicht). Mit dem treibenden Stakkato des Klaviers und dem hektischen Gesang wurde „Scheunenviertel“ zum perfekten Abbild der Großstadt. „ Potsdamer Platz . Nacht“ ist ein deprimierendes, von der Musik verstärktes Bild vom Abtransport eines an der Mauer erschossenen Flüchtlings. „ George Grosz “ ist ein groteskes Bild über ein Viertel, so eckig und hart wie die Bilder des Malers. Und ebenso eckig, hart und grotesk ist die musikalische Umsetzung. Die beiden Nicht-Chansons sind typisch Schleiermacher : Das er bei „Ringbahn“ die Namen der S-Bahnhöfe untereinandergeschrieben. Die Namen werden ausgerufen oder gesungen – mit köstlichen Differenzierungen dem langgezogenen „Gesundbrunnen“ oder dem bedeutungsschweren „Ostkreuz“. Da taucht dann auch plötzlich die DDR-Hymne auf. Und zwischen den Stationen spielt das Klavier kurze Stakkato-Metaphern des „Vorwärts! Vorwärts! Immer weiter!“. Man kann das durchaus als zyklische Komposition bezeichnen. Denn wo die Ringbahn endet, fährt sie auch wieder los. Nach dem gleiche Prinzip, nur weiter draußen, in etwas lieblicherer Landschaft funktioniert der „ Berliner Ring “. Das ist die lange Latte der Autobahn A 10 rund um Berlin. Zwei Lieder , die jedes Programm aufwerten können, weil sie von entwaffnender geistreicher Harmlosigkeit sind.

Die Hauptstadt als Symbol der Freiheit

Peter Schöne und Axel Bauni hatten die Uraufführung von Daria Pavlotskayas neuem Werk übernommen: „Moka, interrupted“. Sie hat da einen eigenen Text vertont. Er ist, wie sie schreibt, „inspiriert von einem Etablissement im Berlin der Zwanziger und Dreißiger Jahre, das heute nicht mehr existiert. Zum einen durch die Zeit, zum anderen durch die Zensur ist dieser Ort als Symbol der einstigen Freiheit in Vergessenheit geraten. Und hundert Jahre später ,swingt‘ das Thema wieder mit.“ Es ist eine Mischung aus Erinnerungen an die konkrete Situation in Kombination mit plötzlichen Gefühlen. Und so, wie die Sätze immer wieder abbrechen, bricht auch die Musik immer wieder ab, die sehr effektvoll und klangfarbenreich dem Text folgt.

Musik, die eine Geschichte erzählt

Marta Gentilucci hat gleich eine ganze Geschichte vertont: „A walk“ oder „The Museum of our lives – Berlin“ des Engländers David Cain. Der ist nach acht Jahren mal wieder nach Berlin gekommen und entdeckt nicht nur die Stadt wieder, sondern auch seine Verbundenheit mit ihr. Es würde sich schon lohnen alleine den Text zu lesen. Aber man merkt der Vertonung die enge Zusammenarbeit von Marta Gentilucci und dem Autor an. Die Musikalität des Textes, seine Dynamik, seine Tempowechsel bei den Spaziergängen, seine Emotionalität und seine atmosphärischen Schwankungen fasste Marta Gentilucci in kongeniale Musik. Und Sarah Maria Sun und Steffen Schleiermacher ließen sich anstecken, gaben dieser „Erzählung in Musik“ viel Luft, um sich zu entfalten und wirkungsvolle, angemessene und stimmige Bilder zu erzeugen. Dazu kam, dass Sarah Maria Sun eine ausgezeichnete englische Aussprache hat.

Die Liebe in Zeiten des technologischen Fortschritts

Die kam ihr auch zugute bei der letzten Uraufführung: „Desire – Venus counsels RealDoll“ für Frauenstimme, Klavier + iPad von Ying Wang nach einem eigenen Text. Sie hinterließ ein bisschen Ratlosigkeit. Denn nachdem Jan Philip Schulze die erforderlichen Apparaturen aufgebaut und verkabelt hatte, konnte er durchaus spannende, interessante, überraschende Klänge aus den Tasten zaubern, und man ließ sich auch beeindrucken. Auch von dem englischen Text, den Sarah Maria Sun trotz der enormen Schwierigkeiten mit allerbester Vokalakrobatik sang. Nur war nicht wirklich herauszubekommen, was er erzählen wollte. Ying Wang weiß es natürlich: „Venus besitzt ewige Jugend und ein liebevolles Herz, sie verkörpert die Göttin der Liebe und sinnlichen Schönheit. Harmony hingegen ist eine „RealDoll“, ein Sexroboter, der schon viel zu ertragen hatte. Venus versucht, RealDoll zu verstehen und zu reparieren, und reflektiert dabei über die Neudefinition der Liebe in der Populärkultur. Die einst in einer langen historischen Tradition verankerte reine Liebe ist bedroht; vor dem Hintergrund des technologischen Fortschritts hat die moderne Liebe viele Verzerrungen und Verschiebungen erfahren, wobei Begehren und Sehnsüchte verschwinden. An die Stelle der Unmittelbarkeit und der Überwältigung der Lust ist eine Kultur des „Fast-Food“-Sex getreten.“ Aha, so ist das also. Zumindest beim ersten Hören besteht der Text aus einer Handvoll Mainstream-Begriffen, die in verschiedenen Kombinationen nur wiederholt werden. Ganze Sätze sind ausgestorben, ein Zusammenhang mit der Musik nicht wirklich zu erkennen. Vielleicht muss man ja das Werk nur ein paar Mal gehört haben, um zu begreifen, was dahintersteckt.

Vielfältige Auswahl an Liedern

Neben den Uraufführungen hatte das Werkstatt-Team 32 Lieder als Umrahmung für die Uraufführungen vorbereitet – ein köstliches Sammelsurium der verschiedensten Geschmacksrichtungen, eines schöner als das andere: etwa Kurt Weills/Erich Kästners „Der Abschiedsbrief“, den Sarah Maria Sun höchst komödiantisch als sitzengelassene Halbweltdame Erna Schmitt inszenierte. Oder das ein bisschen kitschige, leicht pathetische „Die Pappel am Karlsplatz“ von Hanns Eisler , das Peter Schöne und Steffen Schleiermacher ins Volksliedhafte zogen. Oder das Lied mit dem kürzesten Text, „Dir, mir zu“ von Charlotte Seither: „wirf ihn / sagte das meer / und rollte den stein an land“. Mehr ist das nicht, aber Katrīna Paula Felsberga machte daraus mit rollendem „r“ ein raumfüllendes Drama. Oder Heinrich von  Herzogenbergs „Wie lange?“, mit dem Michael Pflumm mit sehr hoher, aber locker geführten Stimme die Romantik in den Saal holte. 

Große Vielfalt im Programm

Es war wirklich alles dabei: Politisches, Lustiges, Liebesschmonzetten, Koketterien, Tränen, Empörung – also alles, was es in Berlin gibt. Zwei höchst unterhaltsame und interessante Konzerte, die mit einem Berliner Frohmut-Potpourri mit allen Beteiligten endeten. Da waren sie zumindest in Anspielung, die ganzen Berliner Ohrwürmer. Das „Klopslied“, „Berliner Luft“, „Pack die Badehose ein“, „Kleiner Bär von Berlin“, „Der Mond ist aufgegangen“ und einiges mehr. Wer nicht da war, hat etwas verpasst.

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