
Als Hélène Grimaud in den Anfangsjahren des Kissinger Sommers einen Klaviernachmittag geben sollte, sorgte sie gleich für eine Anekdote. Der Bayerische Rundfunk wollte das Konzert aufzeichnen; sie aber hatte etwas dagegen. Und so hustete sie und räusperte sich während ihres Spiels so laut wie ein uralter Klavierhocker. Und sie hatte Erfolg: Die Aufnahme war nicht zu gebrauchen. Dafür war die Festivaltüre auch erst einmal zu.
Das hört sich an wie aus einer anderen Welt. Und das ist es ja auch. Denn die Französin hat seitdem eine tolle Karriere gemacht und ist schon lange ganz oben angekommen. Ein sicheres Zeichen: Jetzt, bei ihrer Rückkehr, musste – oder konnte – ihr Rezital gleich im Max-Littmann-Saal und nicht im Rossini-Saal angesetzt werden. Nur zum Vergleich: Grigory Sokolov hat auf diesen Umzug einige Jahre warten müssen.
Einfallsreiche Interpretationen
Hélène Grimauds Programm war eigentlich recht konventionell mit Ludwig van Beethovens Klaviersonate Nr. 30 E-Dur op. 109, den Drei Intermezzi op. 117 und Sieben Fantasien op. 116 von Johannes Brahms und Johann Sebastian Bachs Chaconne aus der Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004 in der Klavierbearbeitung von Ferruccio Busoni. Und doch war es klug zusammengestellt, denn die Beethoven-Sonate war ein guter demonstrativer Einstieg, der zeigte, was ihre Qualitäten ausmacht. Hélène Grimaud ist eine Pianistin, die sich nicht am Üblichen orientiert, sondern die immer eigene, sehr persönliche Lösungen sucht, die mit einer geradezu beiläufigen, gestisch völlig unspektakulären Virtuosität spielt, die in langen Spannungsbögen denkt und spannende Übergänge gestaltet. Da hört sich vieles neu an, nicht nur der lockere, novellistische Einstieg, der dennoch einen deutlichen Vortrieb signalisiert, sondern auch das leicht angejazzte Hauptthema des Satzes, das sie mit einer starken linken Hand gestaltet. Andererseits ließ sie sich zu Beginn des Andante molto cantabile ed espressivo viel Zeit, um mit differenzierten Klangfarben das sangliche Thema in die sieben Variationen zu führen und dabei die Motorik immer mehr zu intensivieren. Die E-Dur-Sonate muss nicht nach Alterswerk klingen.
Das müssen auch nicht die beiden „Alterswerke von Johannes Brahms , seine Drei Intermezzi op. 117 und seine Sieben Fantasien op. 116. Es war mutig, diese beiden Werke zu einem Zehnerblock zusammenzuspannen, wenn man bedenkt, dass schon der Freundeskreis um Brahms nicht allzu begeistert von den Einzelsätzen war. Aber Hélène Grimaud spielte diese Sätze derart individuell und einfallsreich, dass man eben nicht den alten Brahms allein an seinem Flügel zu hören glaubte, der mit der Welt eigentlich schon abgeschlossen hat, sondern jemanden, der mit Lust an einer durchaus persönlichen, mitreißenden Interpretation ein Publikum mitnehmen möchte.
Bachs Chaconne auf dem Klavier
Und schließlich Johann Sebastian Bachs Chaconne aus der Partita Nr. 2 d-Moll BWV 1004 für Violine solo, bearbeitet für Klavier von Ferruccio Busoni – ein berühmtes Werk in einer berühmten Fassung. Es war schon auffallend, dass Hélène Grimaud die Chaconne übergangslos an das letzte Brahms-Capriccio anhängte und damit dessen Allegro agitato in das neue Stück mit hinübernahm – und im Grunde konsequent durchzog bis auf einige umso auffälligere lyrische Stellen. Wir wissen nicht, wie der alte Bach auf diese Interpretation reagiert hätte, ob er die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte – vermutlich nicht, denn dann wäre er ja auch ein Mensch des 21. Jahrhunderts. Vor 300 Jahren ging es ihm darum zu zeigen, was auf der Violine an polyphonen Strukturen möglich ist. Und wer die Chaconne spielte, brauchte nicht nur eine herausragende Griff- und Bogentechnik, sondern auch die Fähigkeit, Strukturen zu erkennen und zu vermitteln.
Das ist bei Busoni und seiner Bearbeitung für das Klavier anders. Wenn er nur die Violine „klavierisieren“ wollte und Bachs strukturelle Meisterschaft hätte zeigen wollen, hätte er sich die Arbeit sparen können, denn mit zehn Fingern lässt sich der Bachsche Notentext natürlich leichter spielen als mit den vier Fingern der linken Greifhand der Violine. Brahms war da mit seiner Bearbeitung für die linke Hand – und damit nur noch fünf Finger – erheblich fordernder, denn zum Beispiel Doppeloktaven können die Pianisten nicht wie die Geiger greifen. Busoni ging es nicht um die Übertragung der Stilistik des Barock, sondern um eine Übertragung der Musik in die spätromantische Klangwelt und Expressivität. Und da war für ihn das Klavier das geeignete Instrument.
Emotionales Spiel
Hélène Grimaud ist Busoni darin gefolgt. Sie erlag nicht der Versuchung, im Spiel des Klaviers die Violine erkennbar zu machen, sondern sie nutzte die technischen und klanglichen Möglichkeiten des modernen Tasteninstruments wirklich bis an die Grenzen aus. Natürlich ließen sich auch in ihrem Spiel die Strukturen des Originals sehr gut erkennen. Aber im Vordergrund stand die mit Virtuosität erzeugte Emotionalität der Musik, denn sie spielte ungemein druckvoll und spannend bis zur Atemlosigkeit, mit krachenden Akkorden und huschenden Arpeggien, aber auch mit lyrischen Passagen, die trotzdem die Spannung nicht ausbremsten. Oder anders gesagt: kompromisslos emotional.
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