zurück
Bad Kissingen
Kissinger Sommer: Kampflieder in der Kulturstadt
Musiker Martin Paul und Schauspieler Michael Gerlinger bringen Ton Steine Scherben in die Wandelhalle.
TV- und Theaterschauspieler Michael Gerlinger (vorn) mit Orchesterleiterin Elena Iossifova (Mitte) und Martin Paul (daneben) bei den Proben für das Rio Reiser Late Night Konzert in der Wandelhalle.  Foto: Benedikt Borst       -  TV- und Theaterschauspieler Michael Gerlinger (vorn) mit Orchesterleiterin Elena Iossifova (Mitte) und Martin Paul (daneben) bei den Proben für das Rio Reiser Late Night Konzert in der Wandelhalle.  Foto: Benedikt Borst
| TV- und Theaterschauspieler Michael Gerlinger (vorn) mit Orchesterleiterin Elena Iossifova (Mitte) und Martin Paul (daneben) bei den Proben für das Rio Reiser Late Night Konzert in der Wandelhalle. Foto: Benedikt Borst
Benedikt Borst
 |  aktualisiert: 19.08.2022 12:00 Uhr
Martin Paul ist ehemaliges Mitglied von Rio Reisers linker Kultband Ton Steine Scherben, Michael Gerlinger ist Schauspieler und Sänger aus Potsdam. An einem Morgen unter der Woche sitzen die Künstler im Foyer eines Bad Kissinger Hotels. Beide sind am Abend vorher angereist für eine zweistündige Probe mit dem Kurorchester. Beim Late Night Konzert am Samstag, 8. Juli, bringen sie die Kampf- und Liebeslieder von Rio Reiser zum Kissinger Sommer in die Wandelhalle (Beginn ist um 22 Uhr).

Die Namen Rio Reiser und Ton Steine Scherben stehen für die Hausbesetzer-Szene und den linken Protest der 1970er Jahre wie keine anderen. Hätten Sie gedacht, dass sie einmal mit dem Kissinger Kurorchester in der Wandelhalle spielen?
Martin Paul : Jetzt hier zu proben ist natürlich etwas Spezielles. Ich fand die Idee sofort gut, als Tilmann Schlömp (der neue Intendant des Kissinger Sommers, Anm. d. Red.) bei mir angefragt hatte. Wir waren als Band auch immer offen für Neues. Gerade Rio Reiser hat ja beispielsweise viel Theatermusik gemacht. Es geht aber nicht nur darum, die Revolution in die Wandelhalle zu bringen und dort zu spielen. Ich finde das Projekt vor allem als Musiker interessant und die Sachen mit Orchester zu spielen. Rio hätte sich da auch sehr gefreut.

Funktionieren die Lieder von Rio Reiser denn mit Orchester?
Paul: Auf jeden Fall. Die ersten Proben mit den Musikern waren sehr motivierend. Elena Iossifova (Leiterin des Kurorchesters, Anm. d. Red.) ist sehr gut drauf und man merkt, dass es dem Orchester Spaß macht.

Haben Sie Angst, dass sie den typischen Zuhörer der Kurmusik mit dem Konzert überfordern?
Paul: Nein. Rio Reisers Musik ist mittlerweile deutsches Kulturgut. Ich finde es gut, wenn es hier gespielt wird. Man darf die Leute nicht unterschätzen. Viele der heutigen Kurgäste haben früher mit Sicherheit Rio Reiser gehört und Rio würde heute vielleicht heute hier zur Kur gehen.
Michael Gerlinger: Ich denke auch, dass wir die Zuhörer nicht überfordern. Wenn die ersten Orchesterklänge kommen, hat das Publikum sofort einen Zugang zu den Liedern. Außerdem haben wir die deutsche Sprache in den Texten als wunderbaren Kulturträger. Wenn ich meiner 80-jährigen Mutter Rio Reiser vorspiele, sagt die auch: "Ach, das ist der? Ich dachte, der macht Rock!"

Martin Paul spielt Klavier und singt einzelne Stücke. Sie, Herr Gerlinger, sind für den Gesang und für gesprochene Textpassagen zwischen den musikalischen Beiträgen zuständig.
Gerlinger: Ich habe mir Texte verschiedener Autoren zum Thema Revolution ausgesucht, von Georg Büchners Robespierre Texten über Lutz Rathenow bis zu Karl Friedrich Reinhardt. Da werden wir die Leute mitziehen.
Paul: Wir machen hier aber kein Konzert a la "Die Revolution geht weiter".
Gerlinger: Wir spielen keine Deutschrock-Punklieder. Das Groß der Musik von Rio Reiser sind seine Balladen und seine Zerrissenheit. Rio Reiser ist Poesie. Das ist wie bei Klaus Kinski. Jeder denkt an die Skandale, aber kaum einer weiß, was für ein feingeistiger Mensch das war.

Wird der Schwerpunkt des Konzerts dann hauptsächlich auf den Balladen liegen?
Paul: Ich denke, wir spielen eine gute Mischung, unter anderem auch Lieder aus dem Theater.
Gerlinger: Das besondere ist, dass die Zerrissenheit in seinen Balladen ebenso da ist, wie in seinen Kampfliedern. Es steckt sozusagen immer Liebe im Kampflied und immer Kampf im Liebeslied. Rio Reiser war im Kontext des politischen Kampfes seiner Zeit ein ganz sensibler Mensch.
Paul: Er hat es geschafft, Texte zu schreiben, die über den Moment hinaus zeitlos sind. Viele deutsche Bands beziehen sich auf ihn und zählen ihn zu ihren Einflüssen. Wir spielen deutsches Kulturgut in der Kulturstadt Bad Kissingen.

Waren Sie denn schon einmal in Bad Kissingen oder hatten Sie irgendwelche Berührungspunkte mit Kur und Kurmusik?
Gerlinger: Ich habe lange im Meininger Theater gespielt, unter anderem als Res Bosshart dort Intendant war (von 2002 bis 2005, Anm. d. Red.). In Meiningen habe ich einmal einen deutschen Kulturabend mit Gedichten von Friedrich Hölderlin gemacht. Dafür habe ich noch einen Musiker gesucht, der mich begleitet. Ich wollte keinen Pianisten, sondern einen Geiger oder einen Cellisten. Ich habe dann Elena Iossifova gefragt. Das war unsere erste künstlerische Zusammenarbeit.
Paul: Für mich ist das absolutes Neuland. Aber ich habe eine positive Erwartung, weil ich glaube, dass die Texte die Leute erreichen. Ich fahre aus dem Ruhrgebiet sogar extra 700 Kilometer nach Bad Kissingen für zwei Stunden Probe mit dem Kurorchester.
Die 1970er Jahre sind lange her. Teilen Sie heute noch ihre politischen Überzeugungen von damals? Sind die politischen Texte von Rio Reise heute noch aktuell?
Paul: Meine Grundhaltung ist natürlich so geblieben, sonst würde ich das Zeug nicht singen. Aber man wird mit zunehmenden Alter natürlich reflektierter. Dafür sind Rios Texte gut geeignet, wegen ihrer Widersprüchlichkeit.
Gerlinger: Die Sturm und Drang Zeit ist bei mir vorbei. Man ist ruhiger und geglätteter. Das ist einerseits schade, weil ich mir schon denke, dass man sich bei manchen Themen viel mehr aufregen müsste, andererseits ist es gut, wenn man nicht gleich mit Steinen die Fensterscheiben von den Banken einschmeißt. Der Sturm und Drang ist natürlich wichtig, um sich von irgendwelchen abgefuckten Normen und Konventionen zu lösen. Wenn junge Leute heute auf die Barrikaden gehen, verstehe ich das.
Paul: Anlässe dazu gibt es heute noch immer genug.

Die Fragen stellte unser Redaktionsmitglied Benedikt Borst.
 
Themen & Autoren / Autorinnen
Bad Kissingen
Barrikaden
Elena Iossifova
Intendantinnen und Intendanten
Karl Friedrich
Kissinger Sommer
Klaus Kinski
Konzerte und Konzertreihen
Kuren
Kurorchester
Kurorchester Bad Kissingen
Lied als Musikgattung
Literatur des Sturm und Drang
Meininger Theater
Rio Reiser
Ton Steine Scherben
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top