zurück
Bad Kissingen
Kissinger Sommer: Ein Konzert mit zwei Hälften
Man fragte sich, warum die Tschechische Philharmonie 36 Jahre gewartet hat, bis sie dieses bemerkenswerte und höchst attraktive Konzert zum Kissinger Sommer mitbrachte. Aber eigentlich war es das Konzert von Geigerin Isabelle Faust
Geigerin Isabelle Faust  steuerte mit unbestechlicher Souveränität durch die Klippen enormer technischer Anforderungen.       -  Geigerin Isabelle Faust  steuerte mit unbestechlicher Souveränität durch die Klippen enormer technischer Anforderungen.
Foto: Gerhild Ahnert | Geigerin Isabelle Faust steuerte mit unbestechlicher Souveränität durch die Klippen enormer technischer Anforderungen.
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 09.09.2022 10:57 Uhr

Die Tschechische Philharmonie gehört zum Inventar des Kissinger Sommers. Das Orchester aus Prag war von Anfang an dabei und kam in den ersten 20 Jahren regelmäßig, meistens für zwei Konzerte , in den Regentenbau. Dann wurden die Besuche etwas seltener, aber sie rissen nie ab. Und so waren sie jetzt wieder da, mit Petr Popelka als Gastdirigent. Im Brotberuf ist er Chefdirigent des Norwegischen Rundfunkorchesters Oslo und Erster Gastdirigent der Janáček-Philharmonie Ostrava.

Man konnte als Kissinger-Sommer-Besucher die Entwicklung des Orchesters ein bisschen miterleben, die sich vor allem in den Dirigenten zeigte. 1986 war noch Václav Neumann Chefdirigent , der auch nach Bad Kissingen kommen wollte, dann aber absagen musste. Auf ihn folgten Jiří Bělohlávek, Gerd Albrecht , Vladimir Ashkenazy, Zdeněk Mácal, Eliahu Inbal, noch einmal Jiří Bělohlávek und, seit 2018 Semjon Bychkow.

Das sind ein bisschen viele Namen. Sieben Wechsel in 32 Jahren - das entspricht einer durchschnittlichen Verweildauer von 4,5 Jahren. Da fällt es schwer, Kontinuitäten zu entwickeln. Und es gab ja auch ziemliche Turbulenzen: etwa 1993, als man Gerd Albrecht holte, weil man sich von ihm als Mann aus dem Westen lukrativere Plattenverträge versprach. Die Hoffnung hielt nur drei Jahre. Und Gerd Albrecht war auch deshalb umstritten, weil er der erste Deutsche am Pult des Orchesters war.

Und jetzt also die Tschechische Philharmonie mit Petr Popelka und der Geigerin Isabelle Faust . Das Programm hätte tschechischer nicht sein können: Bedřich Smetanas "Aus Böhmens Hain und Flur" aus dem wohl unverzichtbare "Ma Vlást" ("Mein Vaterland"), durch das auch die Moldau fließt; das 2. Violinkonzert von Bohuslav Martinů und schließlich Antonín Dvořáks 7. Sinfonie . Für das Prager Orchester hätten das eigentlich drei Heimspiele sein müssen. Aber man erlebte mal wieder zwei Konzerthälften.

Man ist immer wieder überrascht, wenn man den naiven Titel "Aus Böhmens Hain und Flur" liest und dann, wenn die Musik einsetzt, geradezu erschrickt, wie laut es in diesen Hainen und Fluren zugeht. Aber für Smetana war dieser Satz das in Musik gefasste erwachende Nationalgefühl seiner Landsleute, und da kann es auch schon mal zur Sache gehen im Überschwang. Nur gelang es Petr Popelka nicht, der Lautstärke eine euphorische Dimension zu geben, sondern sie geriet außerordentlich aggressiv. Vielleicht wäre es besser geworden, wenn die Musiker immer mal zu ihm geschaut hätten. Aber das ist halt das Los der Gastdirigenten, dass sie bei Werken, die man "drauf" hat, gerne für überflüssig oder vielleicht auch störend gehalten werden. Natürlich gab es im Mittelteil auch lyrische Ecken, bis zum Ende das krachende Nationalgefühl wieder die Herrschaft übernahm. Aber insgesamt muss sich das Orchester, das sich gerne als Gralshüter des weichen böhmischen Klangs feiern lässt, schon fragen lassen, wie das zusammenpasst.

Martinůs 2. Violinkonzert, das beim Kissinger Sommer seine Premiere feierte, war in zweierlei Hinsicht eine Entdeckung. Zum einen ist das eine wunderschöne Musik mit einem enormen Spannungs- und Gestaltungspotenzial. Zum anderen war nach langer Zeit - man kann ruhig sagen: endlich - die Geigerin Isabelle Faust mal wieder da. Und es zeigte sich: Das war ihr Konzert .

Sie steuerte mit unbestechlicher Souveränität durch die Klippen enormer technischer Anforderungen, sie gab ihrem Spiel den Eindruck der Selbstverständlichkeit, entwickelte lange Spannungsbögen. Sie zeigte, dass es eine Spätromantik gibt, die nicht überholt ist, die immer noch Emotionen transportiert. Und sie machte dem Orchester viele Angebote.

Aber da kam nicht viel zurück. Nein, es war nicht schlecht, was das Orchester machte, wie es der Solistin immer wieder die Möglichkeit gab, im Tutti als eine von vielen Klangfarben einzutauchen und wieder hervorzutreten und dadurch ein haltbares Gesamtgefüge zu erzeugen. Was fehlte, war ein Konzept (oder zumindest dessen Umsetzung), das dem Orchester seine eigene Spannung gab, das Antworten auf die Solistin parat hatte, das die Tutti-Teile weniger flach gemacht hätte. Vermutlich war zu wenig Zeit, um da stärker ins Detail zu gehen. So bekam man zu hören, was auf den Notenzeilen stand, aber nicht dazwischen.

Und trotzdem saß man da und fragte sich, warum die Prager 36 Jahre gewartet haben, bis sie dieses bemerkenswerte und höchst attraktive Konzert zum Kissinger Sommer mitbrachten. Dvořáks Cellokonzert können wir schon lange auswendig pfeifen.

Nicht aber seine 7. Sinfonie . Und damit sind wir im zweiten, im anderen Teil. Da muss beim Pausentee etwas passiert sein. Denn das Orchester war kaum wiederzuerkennen - abgesehen von einer immer noch etwas vorhandenen Nivellierung des Fortissimo. Natürlich hat das Orchester die Sinfonie drauf. Aber diese Sicherheit nutzten sie jetzt, um mit dem Dirigenten in Kontakt zu treten. Und so gab es ein fabelhaftes Musizieren dieser seltsamerweise nicht sehr häufig aufgeführten Sinfonie . Denn sie ist voller Einfälle und Schwung. Und Petr Popelka gelang es, trotz des Schwungs die strukturelle Klarheit des Werkes nicht zu verunklären. Und es zeigte sich mal wieder, dass die böhmischen Bläser zu Recht zu den Besten ihrer Zunft zählen. Allein schon das Hörnerquartett war ein absoluter Genuss.

Mitreißend, wie in den beiden letzten Sätzen die - gut kontrollierte - Post abging. Da hätte es die beiden Slawischen Tänze als Zugaben gar nicht gebraucht, denn die brachten nichts wirklich Neues. Nur, dass hier die Präzision ein bisschen von der Begeisterung verdrängt wurde. Aber ist das schlimm?

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Bad Kissingen
Chefdirigenten
Geigerinnen
Isabelle Faust
Kissinger Sommer
Konzerte und Konzertreihen
Sinfonien
Tschechische Philharmonie
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top
  • R. H.
    Aus Böhmens Hain und Flur stammt auch Gustav Mahler, was aber nicht rechtfertigt, dass, wie Sie mit Recht anmerken, Smetana und Dvorak mit dessen Dezibel-Orgien auftrumpfen müssten. Dvoraks Freund Brahms würde genügen. By the way, von Brahms waren die beiden Ungarischen Tänze der Zugabe, meines Erachtens die Zugaben, die man spielt, wenn man wirklich nichts Besseres weiß. Von Janacek, Kodaly oder Bartok gibt es passendere Zugaben.
    • Bitte melden Sie sich an Gefällt mir () Gefällt mir nicht mehr ()
    • Antworten