Es gibt Menschen in Deutschland, die nur für zwei ganz bestimmte Tage zum Kissinger Sommer anreisen: Es sind die beiden Tage der Kissinger Liederwerkstatt. Denn das ist eine Veranstaltung, die dem Festival ein Alleinstellungsmerkmal beschert: Dass Komponisten und (seltener) Komponistinnen, Sängerinnen und Sänger und Pianisten (es sind tatsächlich nur drei Männer) für eine Woche zusammenkommen und neu komponierte Lieder gemeinsam einstudieren, diese Möglichkeit findet man sonst nirgendwo.
Keine Kissinger Erfindung
Eine Kissinger Erfindung ist die Liederwerkstatt allerdings nicht. Gründungsintendantin Dr. Kari Kahl-Wolfsjäger hatte sie 2004 bei dem Bad Reichenhaller Festival „Alpenklassik“ eröffnet und sie nach Bad Kissingen umgesiedelt, als sie 2006 dort die Leitung abgab. Eine gute Entscheidung, denn der Kissinger Sommer hat davon vor allem in der Fachwelt enorm profitiert. Und das Kunstlied konnte sein letztes Biotop behalten.
Mittlerweile dürften es knapp 100 Uraufführungen gewesen sein, die in diesem geschützten Rahmen zu erleben waren. Spätere Generationen werden sich vielleicht wundern, warum bei den meisten Liedern aus dem 21. Jahrhundert der Uraufführungsort Bad Kissingen steht.
Das Werkstattteam
Das Werkstattteam zeichnet sich durch große Kontinuität aus. Wer einen der höchst attraktiven Arbeitsplätze ergattert hat, gibt ihn so schnell nicht wieder auf. Liedprofessor Axel Bauni, der Werkstattchef und Pianist in Personalunion, kann seit Jahren auf seine Kollegen Jan Philip Schulze und Steffen Schleiermacher zählen.
Früher war auch noch Siegfried Mauser dabei. Aber der ist zurzeit im Salzburgischen noch für 14 Monate unabkömmlich – und wird vermutlich in der Werkstatt auch nicht wieder auftauchen.
Neue Komponisten
Bei den Komponisten merkt man deutlicher den Lauf der Zeit. Manfred Trojahn ist der Letzte aus der „Startelf“. Aribert Reimann hat sich zurückgezogen. Und Wolfgang Rihm wollte zumindest noch einen Betrag schicken, konnte das aus gesundheitlichen Gründen aber leider auch nicht mehr. Dafür ist Steffen Schleiermacher seit einigen Jahren auch als Komponist dabei.
Die Sängerinnen und Sänger
Beim singenden Personal ist die Fluktuation am größten. Denn der Job ist beliebt bei denen, die es können. Der Bariton Dietrich Henschel, im letzten Jahr dankenswerterweise noch kurzfristiger Einspringer, war dieses Mal gesetzt.
Bei den Frauen gab es dieses Mal zwei völlig neue Gesichter: die Sopranistin Katrīna Paula Felsberga aus Lettland und die Mezzosopranistin Hagar Sharvit aus Tel Aviv, die beide nicht nur fabelhaft singen konnten, sondern auch recht locker und vergnügt mit den zum Teil enormen Schwierigkeiten umgingen. Die muss man natürlich auch erst mal finden. Ein Tenor wurde nicht gebraucht (Bitte nicht verallgemeinern!).
Mit Humor
Was gab es nun Neues? Auch die Liederwerkstatt stand unter dem Festivalmotto „La dolce vita“, und das tat ihr enorm gut. Denn die Komponisten waren nicht gezwungen, bei der Auswahl ihrer Texte besonders Bedeutungsschwangeres oder bis zur Unkenntlichkeit Philosophisches auszusuchen, sondern sie konnten im Sinne der „Italianità“ auch dem Humor die Türen öffnen.
Zwischenrufe
Wie etwa Steffen Schleiermacher , der ganz offensichtlich die Nachfolge von Wilhelm Killmayer in Sachen „Lied und Humor“ angetreten hat. Er hatte unter dem Titel „Ach, Venedig!“ vier kurze Gedichte von Richard Dehmel, Georg Britting, Riccarda Huch und Klabund vertont. Die ersten drei spielten mit gängigen Gefühlen und Assoziationen. Da konnte Dietrich Henschel Dehmelsches Pathos, Brittings Bedächtigkeit und Huchs Desdemonische Vergänglichkeit zelebrieren. Aber bei Klabunds Neigung zu etwas kitschigen Bildern durchbrach Schleiermacher den emotional bewegten Gesang durch ständige Zwischenrufe von Sehenswürdigkeiten wie „Canal Grande“, Markusplatz“, „Venedig“, „Adria“ sehr schnell auf das fade Niveau eines Reiseprospekts herunter.
Der Schalk saß im Nacken
Auch dem Bozener Oscar Bianchi saß der Schalk nicht nur im Nacken, sondern auch in der Feder. Zwischen zwei Strophen des Liedes „Folle è ben che si crede“ des Renaissancemeisters Tarquinio Merula hatte er einen eigenen Text geschoben: „La canzuncella“, ein ernst klingendes, aber ironisches psychologisches Geschwurbel über die Verlorenheit des Menschen. Und über den hat er sich dann auch als Musiker lustig gemacht.
Wunderbar rollendes "rrr"
Wer den Text mitlesen wollte, schaute sehr schnell sehr ratlos. Denn Katrīna Paula Felsberga sang, passend sekundiert von Axel Bauni, einzelne Laute, Buchstaben, Geräusche – sie hat ein wunderbar rollendes „rrrr“. Man gab sehr schnell das Verstehenwollen auf und amüsierte sich über die Komik der Klänge und ihrer Erzeugung.
Manfred Trojahn hatte sich mit zwei naturlyrischen Gedichten von Giuseppe Ungaretti , „L’ile“ und „Il sogno“ in den französischen und italienischen Symbolismus begeben und eine Musik von expressiver Intensität geschrieben mit spannenden, dem Text genau folgenden dynamischen Nuancen im ersten und einem durchkomponierten Aufbegehren im zweiten Lied, von Hagar Sharvit toll in Szene gesetzt.
Ausflug in die Natur
Geradezu idyllisch war dagegen die neue Kreation von Markus Hechtle, die Dietrich Henschel und Jan Philip Schule vorstellten: „ Still also wieder“ nach einem Text von Giacomo Leopardi . Auch hier ein Ausflug in die Natur und in die Unendlichkeit, in der das Denken ertrinkt – eine ruhige Vertonung, erstaunlich melodisch, die nicht nur gut in der Stimme liegt, sondern auch zum Hineinhören einlädt.
„Wiegenlied“ von Kompositionsprofessorin
Die fünfte Uraufführung steuerte die in Berlin lehrende Kompositionsprofessorin Eun-Hwa Cho bei: „Wiegenlied“ nach einem Text von Ariane Huml. Ein etwas zwiespältiger Text, denn er geht aus von dem bekannten Lied „Schlaf Kindlein, schlaf“, aber er entgleist immer wieder in eine gewisse Barbarei, die das Gegenteil der Absicht bewirkt. Aber Erwachsene macht er auch nicht unbedingt klüger mit seinen spektakulären Wendungen.
Eun-Hwa Cho hat eine stark akkordische Begleitung unterlegt, die der Stimme die Möglichkeit, aber auch das Risiko bietet, sich mit der Artikulation viel Zeit zu lassen. Musikalisch nutzten Hagar Sharvit und Jan Philip Schulze diese Möglichkeit eindrucksvoll differenziert. Aber man bekam eben auch Zeit, den Text aufzunehmen. Und dabei wurde das Lied tatsächlich etwas lang.
Abwechslungsreich
Wie üblich, hatte Axel Bauni um die Uraufführungen herum ein Programm gebastelt, das das Thema mit bereits mehr oder weniger bekannten Liedern umrahmt und erweitert. Man kann ihm für die Auswahl nur ein Kompliment machen, den mit unterm Strich 46 Liedern war sie nicht nur außerordentlich abwechslungsreich, sondern auch informativ. Zum einen, weil viele Italiener vertreten waren wie Petrassi, Casella, Gubitosi, Verdi, Respighi und natürlich Rossini mit seinem Duett der „Regata veneziana, das Katrīna Paula Felsberga und Hagar Sharvit köstlich in Szene setzten. Die Stimmung war insgesamt nicht so beschwert, wie das bei Liedern der deutschen Romantik zwangsläufig nicht ausbleibt.
Deutsche Ernsthaftigkeit
Aber er zeigte auch, dass die Ergebnisse ganz andere sind, wenn deutsche Komponisten italienische Texte vertonen wie Robert Schumann, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Hugo Wolf, André Werner oder Robert Schumann. Da stirbt am Ende zwar auch niemand. Aber die deutsche Ernsthaftigkeit schimmert immer zwischen den Zeilen und Noten durch.
Übrigens: Wolfgang Rihm war doch dabei: mit seinen „Tasso-Gedanken“ von 2018. Das war durchaus anrührend. Aber in ihrer syllabischen, zerrissenen Text- und Musikdiktion wirkten sie jetzt schon ein bisschen aus der Zeit gefallen.
Kehraus mit allen Beteiligten
Zum Schluss gab„ einen richtigen Kehraus mit allen Beteiligten: ein „Stretta-Finale“, eine köstliche Collage mit ironisch aufbereiteten Schnipseln aus italienischen Opern. Da konnten alle noch mal das berühmte Borstentier rauslassen.
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