Jetzt kroch einem schon ein beklemmendes Gefühl den Rücken hoch, als man zum ersten Wandelkonzert des Abends den Raum betrat, der einmal das Kurgartencafé war und der jetzt fast jeglichen Charme verloren hat.
Und wenn man an frühere Konzerte dachte, dann spürte man die Wut, dass es offenbar an Phantasie und vielleicht sogar auch an Bereitschaft gefehlt hat, diesen schönen Raum und Tourismus-Hotspot vor allem im Sommer in seiner Bestimmung weiterzubetreiben. Jetzt ist er herabgewürdigt zu einer „Event-Location“, zu einem „Ereignis-Örtchen“, zu einem Partyraum auf Abruf.
Sinnliche Musik
„Flow my tears“ – passender zur Stimmung als mit diesem berühmten Lied von John Dowland hätten die englische Sopransaxophonistin Jess Gillam und der Gitarrist Miloš (als Bürger Montenegros heißt er Miloš Karadaglić) ihr Konzert gar nicht eröffnen können.
Aber man konnte sehr schnell bemerken, dass die eigenen Tränen sehr schnell von denen des unbekannten Melancholikers aus dem 16. Jahrhundert verdrängt wurden. Denn man wurde von einer ausgesprochen sinnlichen Musik begrüßt. Und von zwei fabelhaften Musikern.
Keine virtuosen Grenzen
Miloš ist ein Gitarrist , der jeglicher virtuosen Anstrengungsgestik abhold ist, der mit extrem wenig Arbeitsgeräuschen spielt und der trotz seiner lakonischen Spielhaltung ungemein differenzierte Klänge produziert.
Die größere Überraschung war aber Jess Gillam, die auf ihrem Instrument keine virtuosen Grenzen zu kennen scheint. Bei John Dowland war es aber die starke Emotionalität und Expressivität, die sie mit wunderbaren Klangfarben und einer stark gestalteten Agogik erzeugte.
Extrem virtuos
Spätestens beim nächsten Werk war der Saal vergessen: bei Arcangelo Corellis berühmter Sonate für Violine und Basso continuo g-Moll op. 5/12, mit dem Beinamen „La Follia“, ein Werk mit einem Thema und sieben Variationen.
Das klingt nach mühsamer Länge. Aber so, wie die beiden spielten, hätte es auch länger dauern dürfen. Denn es war nicht nur rhythmisch spannend gestaltet, sondern auch extrem virtuos in den schnellen Abschnitten. Erstaunlich, wie schnell man ein Sopransaxophon spielen und dabei noch farblich und dynamisch gestalten kann.
Geheimnisvoll aus dem Nichts
Bei Manuel de Fallas „Suite populaire espagnole“ kam die Gitarre natürlich stärker heraus, denn das ist ihre Musik. Obwohl es auch hier beide waren, die in perfekter Abstimmung die Musik geheimnisvoll aus dem Nichts entstehen ließen, die weite Klangräume Andalusiens eröffneten, aber genauso auch mitreißende, kleckernde Tanzmusik erzeugten.
Und man wurde den Eindruck nicht los, dass Jess Gillams Sopransax de Fallas Vorstellungen starker entsprechen konnte als die eigentlich eingesetzte Violine.
Den Satz „Solitüde“ hat der Argentinier Jorge Candrelli für die Beiden geschrieben. Und er meinte dabei die Einsamkeit des Musikers nach einem Konzert . Wenn man das wusste, konnte man das sehr deutlich in der bisweilen retardierten Artikulation erkennen. Wenn man es nicht wusste, konnte man ein ruhiges, etwas melancholisches Stück Musik genießen.
Ein paar schmutzige Töne
Natürlich durfte Astor Piazzolla nicht fehlen. Jess Gillam und Miloš hatten sich für die ersten drei Sätze von „L’histoire du Tango“ entschieden, die in vier Abschnitten die Entwicklung dieses Tanzes zeigt und dadurch bestes Futter für Gestalter mit starkem Ausdruckswillen bietet.
Und die Zwei nutzten dieses Angebot höchst bildkräftig: lärmig, chaotisch, mit ein paar schmutzigen Tönen in „Bordel 1900“, geradezu nüchtern und sachlich in „Café 1930“ und ausgelassen, ein bisschen überdreht in „Nightclub 1960“. Höchst unterschiedlich, aber alles Tango.
Die Zugabe brachte das Publikum zurück in die reale Event-Location mit dem weniger tröstlichen als eher fatalistischen „Let It Be“ der Beatles . Ein wunderbares Konzert in einem ernüchternden Raum – immerhin besser als umgekehrt.
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