Die erste Überraschung gab es schon vor dem ersten Ton. Natürlich ist die Londoner Academy of St. Martin in the Fields ein weltweit bekanntes Orchester – schon wegen des etwas aus dem Rahmen fallenden Namens. Aber dass die Kartennachfrage so groß war, dass wieder der Grüne Saal geöffnet werden musste (oder konnte), das erstaunte schon.
Lag’s am Orchester oder am Programm oder an den Solisten? Oder an der plötzlichen Erkenntnis, dass der Kissinger Sommer 2023 am Montag schon wieder Geschichte ist, und wenn man noch etwas davon mitbekommen wollte, musste man sich aufraffen? Wahrscheinlich lag’s an allem.
Weltweite Schlagzeilen gemacht
Die ASMF wurde 1958 von dem Dirigenten Neville Marriner (damals noch ohne „Sir“) mit zwölf Kollegen des London Symphony Orchestra als Projektorchester gegründet – heute sind es 62 hauptamtliche Mitglieder –, um in der Kirche, die dem Ensemble den Namen gab, auf Barockmusik spezialisierte Konzerte zu geben.
So weit wie Nikolaus Harnoncourt damals schon gingen die Londoner in ihren historisierenden Vorstellungen nicht – auch deshalb, weil sie bis heute auf modernen Instrumenten spielen. Stilbildend wurden sie trotzdem durch ihre rhythmische Pointiertheit und spielerische Vitalität.
Weltweite Schlagzeilen machte die ASMF 1970, als sie Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ mit dem Geiger Thurston Dart herausbrachte. Die Aufnahme war in ihrer geradezu naturalistischen Auslegung so überraschend und prägnant, dass sie aus dem Stand an die Spitze der Charts stürmte und sich dort ungewöhnlich lange hielt.
Der Glanz der ASMF verblasste ein wenig, als sie in den 80er Jahren immer mehr Konkurrenz durch die überall auftauchenden Originalklang-Ensembles mit historischen Instrumenten bekam. Als Gegenwehr erweiterte sie ihr Repertoire um die Romantik und das eine oder andere zeitgenössische Werk.
In Richtung Gegenwart
Das erste Werk des Abends im Max-Littmann-Saal war ein hervorragendes Beispiel für die Programmerweiterungspolitik in Richtung Gegenwart nach dem Motto: „Alter Wein in neuen Schläuchen“. Denn Sir Michael Tippett (er ist erst 1998 gestorben) verwendete in seiner „Fantasie Concertante nach einem Thema von Corelli “ barockes Material und Strukturen wie die des Concerto grosso mit einem Concertino aus zwei Violinen und einem Violoncello gegen die große Gruppe des Concertos und entwickelte daraus höchst anregende Dialoge im barocken Geist, aber in moderner Klangsprache.
Ein Stück, das Musiker wegen seiner freundlichen Unterhaltsamkeit offensichtlich sehr gerne spielen, denn die ASMFler musizierten mit großem Schwung und Differenzierungsgespür.
Fast den Bogen verloren
Konzertmeister (und Dirigent) Tomo Keller hätte vor lauter Begeisterung fast seinen Bogen verloren, als er mit der Spitze unter die Saiten geriet (nix passiert!). Allerdings: Tippett hatte sich offenbar auch in seine Musik verliebt, denn er wollte nicht loslassen. Er hätte die Schlussfermate ruhig deutlich früher setzen können, ohne dass Wichtiges nicht gesagt worden wäre.
Aber dann kam die große Überraschung : Antonio Vivaldis Konzert für zwei Violinen, Streicher und Basso continuo a-Moll RV 522- ein wirklich minutiös bekanntes Werk, das man mitpfeifen könnte, wenn man dürfte. Aber wenn es so bearbeitet ist, dass statt der zwei Soloviolinen ein Akkordeon und eine Mandoline auftreten, dann klingt plötzlich alles anders – und spannend.
Kontrast der Instrumente
Es ist schon der Kontrast der beiden Soloinstrumente: Ein Akkordeon kann jeden Ton stundenlang halten – je nach Kondition des Spielers; der angerissene Ton der Mandoline ist perkussiv, ist schon nach Sekundenbruchteilen wieder verschwunden. Da entstanden enorme kreative Spannungen, die in der Zusammenarbeit mit dem Orchester noch verstärkt wurden.
Da hörte man durch neue Klangfarben und Akzentuierungen, durch eine veränderte Dynamik, die vor allem das Akkordeon ermöglichte – gelegentlich musste man halt auf das Durchsetzungsvermögen der Mandoline Rücksicht nehmen (aber wirklich nur gelegentlich) völlig neue Strukturen und melodische Verläufe, die in der Originalversion mit zwei gleichen Soloinstrumenten, die auch noch die Konkurrenz des Orchesters haben, schon mal untergehen.
Fabelhafte Solisten
Aber es waren auch zwei fabelhafte Solisten: Martynas Levickis, der bei seinem Akkordeon keinerlei technische Grenzen zu kennen scheint und die kompliziertesten Verläufe unaufgeregt spielt als wären sie gar nichts, der mit schnellen Registerwechseln die Klangfarben nach Belieben ebenso variieren kann wie durch Drucksteuerung die Dynamik.
Dazu Avi Avital, der mit seiner Mandoline (mindestens) schon zweimal zu Gast beim Kissinger Sommer war und dessen Virtuosität deshalb nicht überraschend , aber doch wieder erstaunlich war.
Natürlich hat er, vor allem in hohen Tempi, weniger Möglichkeiten klanglicher Differenzierungen, aber er macht das wett mit einer unglaublichen Geschwindigkeit seiner Finger, mit der er die gewagtesten Verzierungen und Repetitionen spielt. Und es war einfach schön zu beobachten, wie die beiden immer aufeinander zu spielten, sich provozierten.
Cembalo hat Vortritt
Sicher, die ganz große Überraschung war weg, als Martynas Levickis mit der ASMF Arcangelo Corellis Concerto grosso für Streicher und Basso continuo D-Dur op. 6/4 in der Fassung für Akkordeon und Orchester spielte. Und trotzdem war es auch hier spannend, wie das Akkordeon mit seinen Möglichkeiten gewachsene Klangvorstellungen und Strukturverläufe aufbrechen konnte, wie es kraftvoll kadenzierend das Treiben eröffnete, um sich dann auf einen Dialog mit Tomo Keller einzulassen.
Fast alle Akkorde waren verzierend aufgebrochen, der virtuose Aspekt stand im Vordergrund. Ganz anders im zweiten Satz, wo Levickis dem Cembalo den Vortritt ließ, das sich schön in Szene setzen konnte, während das Akkordeon colla parte mit den Streichern zusätzliche Klangfarben lieferte. Mit einem ungemein tänzerischen, druckvollen Finale klang das Konzert aus.
Bach hat viele Verzierungen notiert
Avi Avital hatte es bei Johann Sebastian Bachs Konzert für Violine, Streicher und Basso continuo Nr. 1 a-Moll BWV 1041 etwas schwerer mit der Wirksamkeit, denn er spielte die Stimme der Solovioline nahezu unverändert eins zu eins. Denn die läuft immer mal wieder parallel zur 1. Violine und geht dabei unter. Zum anderen aber hat Bach schon viele Verzierungen auskomponiert und notiert, sodass wenig Spielraum für die eigene ausschmückende Fantasie blieb.
Schade, denn wenn Avi Avital loslegt, beginnt das Staunen. Andererseits musste, vor allem im dritten Satz, ein nicht ganz passendes hohes Tempo angeschlagen werden, um in der unverzierten Mandolinenstimme keine klanglichen Leerräume entstehen zu lassen. Und so huschte der Satz ziemlich schnell vorbei.
Gerne etwas gemütlicher
Avital brachte das nicht in Schwierigkeiten. Aber das Orchester hätte es wohl gerne gemütlicher gehabt. Und zum Schluss ganz normaler Mozart, ohne Solisten, nur Orchester, jetzt um zwei Oboen und zwei Hörner erweitert: die Sinfonie Nr. 29 KV 201. Die war sehr geläufig musiziert. Aber nach dem turbulenten Geschehen bisher wirkte sie ein bisschen ernüchternd. Hätte es denn nicht Mozarts Konzert für zwei Klaviere KV 365 in der Bearbeitung für Akkordeon und Mandoline geben können?
So hörte man geduldig zu. Und wenn man beckmessern wollte: Ein echter Dirigent wäre hier nicht schlecht gewesen, denn die Anfänge der Sätze waren alle ein bisschen vorsichtig, zögerlich und dadurch verwaschen.
Bei den Wiederholungen saßen sie bestens. Und er hätte sicher auch im Andante auf einem konstanten Tempo beharrt. Denn so wurden die Einwürfe der Bläser immer auch ein bisschen zu Weckrufen für die streichenden Kollegen – mit Erfolg. Als Zugabe gab es das Finale aus der Sinfonie KV 74 des 14-jährigen Wolferl.
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