Die Bühne des Kurtheaters lag beinahe vollständig im Dunkeln, als sich zwei nur schemenhaft wahrzunehmende Gestalten an ihre ebenso kaum erkennbaren, merkwürdig verkabelten Gerätschaften begaben und plötzlich wabernde Klänge aus den Lautsprechern dröhnten.
Die kräftiger werdenden atmosphärischen Sounds wurden von rhythmisch flackernden Lichtspots aus dem hinteren Teil der Bühne begleitet, als schließlich mit kräftigem Klang auf dem Piano gespielte Rhythmen mit einstiegen.
Szeneclub statt Kurtheater
Tief wummernde elektronische Beats legten sich schließlich unter den Klangteppich und verwandelten den Theatersaal scheinbar in einen Berliner Szeneclub des elektronischen Untergrunds. Man glaubte zu verstehen: modernes Klavierspiel begleitet von elektronischen Beats.
Nach den ersten energiegeladenen Ambient-Stücken ergriff Pianist Erol Sarp das Mikrofon und sprach in fast schüchterner Stimmlage zum Publikum. Diesem jungen, sympathischen Mann würde man ein solch kräftiges und souveränes Pianospiel zu elektronischen Beats gar nicht zutrauen.
Besuch in Bad Kissingen
Er witzelte, er kenne Bad Kissingen lediglich von einem Besuch des Opas einer Freundin und fragte mit einem leichten Augenzwinkern in Richtung Veranstalter, was ihre Musik, die sonst in Clubs und Kreativzentren gespielt wird, auf einem der wichtigsten Klassik-Festivals zu suchen hat.
Doch auch er ließ vorerst die Frage offen, was der eigentliche Kern ihrer Musik ist, bevor das Duo in den nächsten energiegeladenen musikalischen Block dieser Klangreise einstieg.
Und auch bei den nächsten klanggewaltigen, durch und durch atmosphärischen Musiktracks, die allesamt durch akzentsetzende Lichtinstallationen begleitet wurden, stand man ratlos vor der Frage: Was passiert hier eigentlich gerade?
Grenzen sprengen
Sarps aus der Schweiz stammender Musikkollege Lukas Vogel, der für den elektronischen Part des Duos verantwortlich ist, nahm nach diesem musikalischen Block ebenfalls das Mikrofon in die Hand und versuchte, etwas Licht ins Dunkel des im wahrsten Sinne des Wortes dunklen Kurtheaters zu bringen.
Das 2011 in Düsseldorf ins Leben gerufene Musikprojekt versucht, durch technische Veränderungen am Instrument die Grenzen des klassischen Konzertflügels zu sprengen.
Das erinnert an John Cage , der gegen Ende der 1930er Jahre erstmals sein Klavier „präparierte“ und Radiergummis, Schrauben oder Papierschnipsel zwischen die Saiten quetschte und so neue Geräusche oder auch perkussive Klänge erzeugte.
Kleine Hämmer am Klavierkorpus
Lukas Vogel ist einen Schritt weiter gegangen und hat eine komplette Apparatur entwickelt, die mittels kleiner Hämmer an verschiedenen Stellen im Korpus des Klaviers verschiedene Töne und Geräusche erzeugt. Diese Geräusche verfremdet er mit einer von ihm selbst entwickelten elektronischen Software und verschiedenen Drumcomputern zu jenen Beats und Klängen, mit denen er das Pianospiel seines Musikpartners Erol Sarp untermalt.
Und hier schließt sich der Kreis: Jedes Geräusch, jeder Ton und jeder Klang stammt direkt aus dem Klavier selbst, was man ob der großen elektronischen Klangfülle und der schier endlosen Variationen der Musik kaum glauben mag. Wo Cages präpariertes Klavier für den ungeübten Musiklaien nur Krach erzeugt, entstehen hier melodisch und rhythmisch ausgewogene, technisch perfekt umgesetzte Ambient- oder Minimaltracks.
Live-Show im Kölner Dom
Nicht unerwähnt blieb ein Projekt, welches wohl zu einer Herzensangelegenheit der zwei Musiker geworden ist und am 26. August 2022 stattfand: eine Live-Show im Kölner Dom, für welches das Duo eigens ein an die voluminösen (Klang)Räume und den Nachhall von ganzen 13 Sekunden angepasstes Konzertprogramm entwickelte. Wie Sarp betonte: Diese Musik funktioniert nicht in Clubs, ebenso wenig wie Techno im Kölner Dom funktioniert.
Es hat beide noch einmal ein Jahr harte Experimentierarbeit gekostet, um diese Musikstücke so anzupassen und die Rhythmen so zu verzerren, dass sie nun auch in weitaus kleineren, den Klang schluckenden Räumen funktionieren.
Augen zu und Grandbrothers zuhören
Das Publikum wurde eingeladen, die Augen zu schließen und sich in die Weitläufigkeit des Kölner Doms hineinzuversetzen. Und es stimmte: Lukas Vogels elektronische Maschinen waren wahrlich in der Lage, den kleinen Theatersaal in ein gefühlt endlos großes Kirchenschiff zu verwandeln.
Ein musikalisches Experiment, welches in dieser Form zum ersten Mal stattfand. Grandios! Nun: mer losse d’r Dom in Kölle, denn da jehöt hä hin. Das Kurtheater ist weder der Kölner Dom, noch ein Electronic-Club.
Doch dieser herrlich außergewöhnliche Abend hat eines gezeigt: Musikalische Experimente können funktionieren, und das gelegentliche Sprengen der eng gesetzten Rahmen der klassischen Musik erweitert den Horizont!
Wer verstanden hat, was sich im Innern des Konzertflügels wirklich abgespielt hat, der weiß, dass dieses Konzert der Grandbrothers seinen berechtigten Platz im Programm des Kissinger Sommers hat.
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