
Manchmal sitzt man im Konzert und wüsste zu gerne, was da zwischen Dirigent und Orchester abläuft. Jenseits des Offensichtlichen natürlich, also jenseits dessen, was auf der Bühne sichtbar und hörbar ist. Der Abend mit Christian Thielemann und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks am Sonntag beim Kissinger Sommer war ein solches Konzert. Vom ersten Moment an lag eine Spannung in der Luft, die mit Händen zu greifen war.
Auf dem Programm nur ein Werk: Anton Bruckners monumentale 5. Symphonie in B-Dur. Es ist das sozusagen nachgeholte Debüt Thielemanns bei den BR-Symphonikern, eine erste Zusammenarbeit hatte 2021 coronabedingt nur ohne Publikum stattfinden können.
Thielemann und die BR-Symphoniker, das wirkt im ersten Moment nicht wie eine Liebe auf den ersten Blick. Thielemann, der derzeit wohl bedeutendste Dirigent für das Repertoire von Wagner bis Mahler und Strauss, und der selbstbewusste Klangkörper, der in der kommenden Saison unter Simon Rattle und anderen Dirigenten eher anderes Repertoire spielen wird.
Ein Kräftemessen zwischen den Ausführenden und dem Werk
Es wirkt eher wie eine Art Kräftemessen. Und zwar nicht nur eines zwischen Dirigent und Orchester, sondern auch zwischen Ausführenden und Werk. Im Falle von Bruckners Fünfter jedenfalls ist das Ergebnis schlicht atemberaubend. Es ist, als wollten Dirigent und Orchester einander gegenseitig beweisen, wie tief man einsteigen kann in diese ausladende Partitur. Wie präzise man artikulieren, wie geschlossen man dynamische und motorische Wechsel vollziehen, wie sensibel man die Akustik des Max-Littmann-Saals auch im dreifachen Fortissimo nutzen kann.

Und im äußersten Pianissimo: Die Kontrabass-Pizzicati zu Beginn sind kaum hörbar, die Symphonie entsteht wahrlich aus dem Nichts. Der Einsatz der Streicher, ganz schlicht, wie demütig, ist der erste von vielen Glücksmomenten. Es folgen viele weitere, mit satten Chorälen, feinsten Soli und immer wieder meisterhaft differenzierten Hörnern.
Thielemann dirigiert auswendig - allein das zeigt, wie sehr er dieses Werk durchdrungen hat, das sonst - unter weniger begnadeten Erzählern - mit all seinen Wiederholungen, Paraphrasierungen, Selbstzitaten wirken kann wie eine mehr oder weniger willkürliche Aneinanderreihung von Themen.
Alles organisch, alles natürlich, wenn auch nicht logisch
Unter Christian Thielmann, dem allgegenwärtigen Kapellmeister und Gestalter, aber lüftet sich ein Schleier nach dem anderen. Alles organisch, alles natürlich, wenn auch nicht logisch. Das wiederum ist der Reiz: Dieses Werk ist ein tiefer Einblick in die komplexe Seelenlandschaft eines Menschen, mit allen seinen Ängsten, schmerzvollen Erinnerungen, Hoffnungen und seiner tiefen Sehnsucht nach Trost und innerem Frieden.
Man muss kein Musiker sein, um zu verstehen, dass die Körpersprache dieses Dirigenten, seine präzise Technik ebenso wie seine Ausstrahlung keine Wahl lassen: Hier ist nichts weniger als Höchstleistung akzeptabel. Und er bekommt sie, das jubelnde Publikum steht bereits Sekunden nach dem Schlussakkord. Und Thielemann, nachdem er gute 80 Minuten lang gefühlt vor allem die ersten Geigen getriezt hat, umarmt spontan den Konzertmeister. Wie gesagt, man wüsste zu gern, was da eigentlich abläuft.