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Bad Kissingen
Kissinger Klavier-Olymp: Ein zweiter Igor Levit?
Der 17-jährige Yoav Levanon, 2020 Zweitplatzierter, zeigt, was er im letzten knappen Jahr gelernt hat: Freiheit, Witz und Größe.
Wieder sehen nach einem Dreivierteljahr: Sergey Tanin (rechts) und Yoav Levanon, der Erst- und der Zeitplatzierte des Kissinger Klavier-Olymps 2020.   Foto: Gerhild Ahnert       -  Wieder sehen nach einem Dreivierteljahr: Sergey Tanin (rechts) und Yoav Levanon, der Erst- und der Zeitplatzierte des Kissinger Klavier-Olymps 2020.   Foto: Gerhild Ahnert
| Wieder sehen nach einem Dreivierteljahr: Sergey Tanin (rechts) und Yoav Levanon, der Erst- und der Zeitplatzierte des Kissinger Klavier-Olymps 2020. Foto: Gerhild Ahnert
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 17.08.2022 07:10 Uhr

Sie waren beim Klavier-Olymp 2020 der Gewinner und der Zweitplatziere: Sergey Tanin aus Russland, der in Moskau sein Studium begann und derzeit in Basel fortsetzt, und Yoav Levanon, 2004 in Israel geboren und dort neben einer bereits erstaunlichen internationalen Karriere auch studierend - mit anderen Worten: Der Älteste und der Jüngste des letztjährigen Wettbewerbs. Man konnte jetzt gespannt sein, wie sich die beiden weiterentwickelt haben. Das Ergebnis war etwas irritierend. Denn man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Jüngere an dem Älteren vorbeigezogen war.

Probleme mit der Pedale

Sergey Tanin eröffnete seine Konzerthälfte mit Georg Friedrich Händels Chaconne G-dur HWV 435. Man war angenehm überrascht, wie der heute 26-Jährige mit großer Frische loslegte, wie er gar nicht erst versuchte, seine Interpretation auf historisches Cembalo abstimmen, sondern einen modernen Flügel zugrunde legte. Was sehr schnell zum Problem wurde, war der Gebrauch des rechten Pedals. Da hätte er eigentlich auch einen Stein drauflegen können. Der bedauerliche Effekt war, dass die Konturen verschwammen, dass das Filigrane seiner eigentlich sehr genau ausmusizierten Verzierungen verloren ging, dass sich nicht mehr nachvollziehen ließ, dass eine Chaconne eigentlich ein Variationensatz ist.

Man begann angesichts der als nächstes angekündigten "Davidsbündlertänze" von Robert Schumann skeptisch zu werden. Vielleicht müsste Sergey Tanin nur mal nach Leipzig fahren und in den "Caffee Baum" gehen. Freilich sind Schumanns Davidsbündler seine drei Kopfgeburten Eusebio, Florestan und Meister Raro. Aber die Davidsbündler gab es (als Vorbild und Namensgeber für Schumann) auch wirklich: ehrbare Leipziger Bürger, die in dem Kaffeehaus einen Stammtisch betrieben - von dem heute noch Namensschildchen über ihren Plätzen zeugen. Die trafen sich nicht, um sich die Kaffeekännchen "aufn Nischel zu kloppn" (unter "Nischel" versteht der Sachse einen Kopf), sondern um geistreich zu diskutierten - wie Schumanns drei Kadetten. Das Diskursive, bisweilen Nachdenkliche dieser musikalischen Debatte ging leider mehr oder weniger unter. Da hatte sich Sergey Tanin wohl offenbar von dem "Kampf der Davidsbündler gegen die Philister" aus Schumanns "Carnaval" in eine falsche Richtung lenken lassen. Ziemlich unnachgiebig gerieten auch die drei Sätze aus Peter Tschaikowskys "18 Stücken für Klavier " op. 72, wobei Tanin das "Echo rustiqe" durchaus als Anlage in zwei Ebenen interpretierte.

Wo bleibt die Dynamik?

Ganz ohne Zweifel ist Tanin ein herausragender Techniker , der sich erlauben kann, auf volles Risiko zu gehen. Aber das ist halt nur ein Aspekt der Musik. Was dabei etwas zu kurz kommt, sind die gestalterischen Freiräume, ist das Erzählerische der Musik, eine plastische Dynamik und differenzierte Klangfarben. Er hat, wenn man es recht bedenkt, keinen einzigen wirklich leisen Satz gespielt - obwohl er es könnte. Er erinnert an den jungen Lars Vogt , der in diesem Alter auch meinte, dass man als junger Musiker am besten mit Tempo und Lautstärke Aufmerksamkeit erzeugt. Heute ist er Klavierprofessor in Hannover.

Einen ganz beachtlichen Sprung nach vorne hat der 17-jährige Yoav Levanon gemacht. In dem Alter der rasanten Entwicklung ist das auch keine Kunst. Natürlich reist er immer noch mit Betreuern, weil er - immer noch nicht - volljährig ist. Aber es hat ein erkennbarer Emanzipierungsprozess eingesetzt, der sich schon daran zeigt, dass er Humor entwickelt, dass er sogar auf der Bühne lachen kann.

Eigene Gestaltung

Die Entwicklung war schon deshalb so deutlich, weil die beiden Programme einen Vergleich mit Sergey Tanin durchaus erlaubten. Auch Joav Levanon spielte eine Folge von Charakterstücken, nämlich Felix Mendelssohn-Bartholdys "Variations sérieuses" op. 54. Im Grunde genommen sind das Etüden über ein Thema. Aber Mendelssohn hat beim Komponieren schon die Nähe der trockenen Akademie vermieden, und Yoav Levanon ist erstaunlich frei geworden im letzten Dreivierteljahr, hat einen wirklich eigenen Gestaltungswillen jenseits der Lehrermeinung entwickelt. Und so schaffte er es mit einer in Anschlag und Agogik höchst differenzierten Gestaltung, die 17 Variationen zu lauter kleinen, die Fantasie anregenden Geschichten zu machen und ihnen darüber hinaus einen durchgehenden Zusammenhang zu geben.

Und auch Yoav Levanon spielte Robert Schumann : dessen große, viersätzige Fantasie op. 17. Da zeigte er großes Gespür für die Musik, aber auch für den Komponisten . Zum einen deutete er den Begriff "Fantasie" nicht als Lizenz zum Verwaschenen, zum Unverbindlichen oder Abgehobenen, sondern er gestaltete außerordentlich klar, in langen Bögen und plastischen Klangbildern mit einer Freiheit, die schon ein bisschen in Richtung Improvisation wiesen, ohne den Notentext zu verlassen. Vor allem aber gelang es ihm mit einem kontrastreichen Spiel, den Komponisten mit seinen Gemütslagen lebendig werden zu lassen: den um seine Clara kämpfenden Robert Schumann .

Das schaffte er nicht nur, indem er Stimmungen und ihre Schwankungen gestaltete, sondern auch, indem er von Schumann bewusst gesetzte Zitate zum Beispiel aus den "Kinderszenen", deutlich herausarbeitete. Am deutlichsten machte Yoav Levanon das Streben des Komponisten mit der besonderen Herausstellung eines Beethoven-Zitats, das sich durch die ganze Komposition zieht: "Nimm sie hin denn, diese Lieder ". Schumann muss sich verstanden gefühlt haben.

Bei der Sonate Nr. 1 des Australiers Carl Vine (*1954) wurde auch Yoav Levanons Humor sichtbar. Da kam er mit Samtfrack und Fliege auf die Bühne, wie ein Barpianist - nicht zuletzt, um zu zeigen, dass er sich jetzt in einer ganz anderen Zeit und Sphäre bewegte. Und ein bisschen wie Zirkus wirkte auch die Musik: kaum bis gar nichts Melodisches, aber Berge von Akkorden in Blöcken und Rückungen, die Tastatur rauf und runter bis zur Auflösung, gerne im Fortissimo, aber sich im Morendo auflösend. Das klingt nach Konfektion und rascher Langeweile, aber der junge Mann schaffte auch hier Differenzierungen und machte mit seinem enormen Zugriff auch die technische Umsetzung spannend.

Und schließlich tat Yoav Levanon nach einer kurzen Zugabe etwas, worauf vor ihm noch niemand gekommen war: Er trat an die Rampe, dankte denn Organisatoren des Kissinger Sommers und des KlavierOlymps für ihre Arbeit und spielte extra für sie noch Franz Liszts "Campanella". Letztes Jahr war der junge Mann Zweiter des KlavierOlymps: Vielleicht war er einfach nur ein Jahr zu früh da. Man sollte ihn im Auge behalten. Der mittlerweile berühmteste Wettbewerbszweite war Igor Levit.

 
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