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BAD KISSINGEN
Kino als Meditation
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 17.10.2017 10:22 Uhr

Die Traumfabrik machts möglich. Viele gehen ins Kino, um sich abzulenken. Sie wollen die Welt, ihre Probleme für gut zwei Stunden vergessen. Auf der Kinohitparade ganz oben stehen die Blockbuster aus Hollywood.

Für Pierre Stutz ist ein Kinobesuch ebenfalls Unterhaltung, aber keine Flucht aus dem Leben. Wenn im Saal das Licht ausgeht, dann ist er ganz bei sich.

Bereits als 15-Jähriger hat der Schweizer die große Leidenschaft für sich entdeckt – und nicht nur das. Filme waren und sind für ihn Hoffnungs- und Befreiungsgeschichten, Inspirationen. Sie beeinflussten ihn auf seinem Weg durchs Leben. Und sie begleiten ihn weiter. So oft es ihm möglich ist, sitzt er im Kinosessel, lacht, weint, fühlt mit, lässt sich tief anrühren, erschüttern, ermutigen. „Ich erlebe dort Momente, in denen ich voll da bin – und ganz weg“, erzählt der 62-Jährige und lacht über seine paradoxe Aussage.

„Natürlich gibt es auch Schrottfilme.“ Oder es würden Parallelwelten aufgezeigt, die nichts mit dem Leben zu tun haben. Aber Pierre Stutz scheint oft genug eine gute Wahl getroffen zu haben.

Kraftquelle Film

Einige seiner Lieblingsfilme stellt der Autor in seinem jüngsten Werke vor vor – nein, nicht als Filmkritiker. Pierre Stutz ist spiritueller Lehrer. Der Buchtitel lautet: „Geh hinein in deine Kraft“. Stutz schildert darin „50 Filmmomente fürs Leben“ – um seinen Lesern aufzuzeigen, wie Menschen zu neuer Stärke finden können, die sie befähigen, vorgezeichnete Wege zu verlassen. Es geht ihm um die Ermutigung, etwas zu ändern, wenn man unzufrieden ist. „Kino mit seinen ganzen Emotionen ist da etwas Wunderbares.“

Sein eigenes Leben beschreibt Pierre Stutz als geradlinig auf verschlungen Wegen. Geboren wurde er 1953 im Kanton Aargau. Sein Elternhaus war kirchlich geprägt. Er wurde Seelsorger, gründete ein „offenes Kloster“, gab eine spirituelle Fotozeitschrift heraus. 2002 legte er sein Priesteramt nieder. Seither schreibt er Bücher, hält Kurse und Vorträge – kürzlich in Münsterschwarzach im Recollectio-Haus bei der Verabschiedung von Wunibald Müller – und in der nächsten Woche, am Freitag, 3. Juni, auf dem Kongress „Spiritualität im Leben“ der Akademie Heiligenfeld in Bad Kissingen.

„Der Club der toten Dichter“

Einen seiner wichtigsten Filmmomente erlebte Pierre Stutz in „Der Club der toten Dichter“. Die Schlüsselszene des Dramas von Regisseur Peter Weir aus dem Jahr 1989 schaut er sich – „DVD sei Dank“ – heute noch ständig an. Sie zeigt Lehrer John Keating, gespielt vom „wunderbaren“ Robin Williams, wie er aufs Pult steigt und seinen Schülern erklärt, warum er das tut: um die Welt von oben zu betrachten, weil sie dann ganz anders aussieht.

Dieser Film habe ihn erschüttert. Das Leben aus einer anderen Perspektive anzuschauen – wie Lehrer Keating im Film – „das ist für mich eine gute Beschreibung einer spirituellen Blickrichtung.“ Kino mit seiner ganzen Kraft könne ihn herausholen aus einer Enge und ihm zeigen: „Ja, das gebe es noch eine andere Möglichkeit, mein Leben, meinen Weg, auch wenn es eine schwierige Etappe ist, noch mal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten.“

Pierre Stutz hat es getan. Er ist aufs Pult gestiegen und ist heute „glücklicher denn je“, zudem gelassener und kämpferischer zugleich. „Der Club der toten Dichter“ habe ihn ermutigt, „zu mir zu stehen, zu meinem Weg, mit einem Mann leben zu dürfen und bereit zu sein für die Konsequenzen aus dieser Entscheidung und dabei nicht in der Opferrolle stecken zu bleiben.“ Es war eine Befreiung. Er hat er diesen Schritt nicht bereut.

So leidenschaftlich wie der katholische Theologe Filme schaut, so führt er auch sein Leben. Und die Anregungen in seinem Buch finden viel Zuspruch. In rund 100 Vorträgen habe er bereits seine Zuhörer aufgefordert, ihre Kraft zu finden und sich mit anderen zu verbinden. Immer zeigt er dazu auch eine Filmszene, die veranschaulicht, was er damit meint. „Viele sehen die Schattenseiten, die Verwundungen, auf die sie zurückgeworfen werden und denken, dass das nur sie betreffen würde.“ In Filmgeschichten könne man sich jedoch wiederfinden und auf neue Gedanken kommen.

Pierre Stutz sammelt diese für ihn magischen Augenblicke, „in denen ich entdecke, wofür es sich zu leben lohnt.

„Zur Sache Schätzchen“

Bereits einer seiner ersten Filme, die Pierre Stutz im Kino gesehen hat, führte ihm das vor Augen. Es war „Zur Sache Schätzchen“ mit Uschi Glas. Er hat ihn heimlich gesehen, ohne Erlaubnis seiner Eltern, und weiß sogar noch genau wann: im Februar 1968. Er erlebte eine Enttäuschung, weil Uschi Glas nur ihre Bluse ein wenig geöffnet hat, aber auch einen Aha-Effekt. Das Agieren der „Halbstarken“ beeindruckte den pubertierenden Jungen. Auch er wollte sich nicht mehr verbiegen lassen, wollte so selbstbewusst sein wie sie. „Das war Balsam für meine Seele, die darunter litt, im Heimatdorf jeden Tag mehrmals täglich mit der lebensbehindernden Frage: ,Was denken die anderen?‘ konfrontiert zu werden“, beschreibt Pierre Stutz in seinem Buch seine Gefühle von damals.

Der Film zählt heute nicht mehr zu seinen Favoriten. Bei einem „Wiedersehen“ erkannte er jedoch den roten Faden, der sich bis heute durch sein Leben zieht. Der Buchtitel drückt es aus: das in die eigene Kraft Hineingehen – auch in schwierigen Situationen.

Nicht nur eine Kraftquelle sprudelt für den Schweizer im Filmvorführungssaal. Kino ist für ihn auch Meditation. „Weil das nicht bedeutet, nur die Augen zu schließen, sondern sich zu sammeln – bewusst, mit offenen Augen.“ Er weiß, viele haben damit nichts am Hut und denken, dass sie beim Meditieren „krampfhaft fromm“ sein müssten. Da lacht Pierre Stutz wieder. Nichts liegt ihm ferner als komplizierte Methoden.

Krafübungen für den Alltag

Auch beim Wort „Spiritualität“ ziehen nicht wenige abwehrend die Schultern hoch. Der Kinofan ist zugleich, wie er betont, ein Sprachliebhaber und erklärt Skeptikern: „Das Wort kommt vom lateinischen Verb spirare, das bedeutet atmen.“ Das sei nicht exotisch. Es bedeutet, den Rhythmus des Atmens einzuüben. Gerne fragt Pierre Stutz humorvoll seine Zuhörer: „Haben Sie heute schon geatmet?“ Das sei für ihn die große spirituelle Frage. Wer regelmäßig achtsam tief ein- und ausatme, könne den Atem Gottes erfahren.

Da spricht der Seelsorger, der spirituelle Lehrer. Pierre Stutz verbindet nicht nur Film mit Spiritualität. Er beschreibt in seinem Buch auch „Kraftübungen“ für den Alltag – die ermutigen, nicht nur die Perspektive zu ändern, sondern zu erkennen.

Literaturtipp:

Pierre Stutz: Geh hinein in deine Kraft. 50 Film-Momente fürs Leben (208 Seiten, Verlag Herder, 19,99 Euro).

Kraftübungen für den Alltag

In seinem Buch „Gehe hinein in deine Kraft“ (Verlag Herder) gibt der Autor Pierre Stutz Kraftübungen für den Alltag. Eine Auswahl:

In meinem Kalender schreibe ich Verabredungen mit mir selbst auf. Ich gönne mir jeden Tag eine halbe Stunde Zeit zum Innehalten: im stillen Sitzen, im achtsamen Gehen, im Yoga oder Qi Gong.

Tanzen als Meditation: Ich erlaube mir freies Tanzen, besuche einen Tanzkurs, bewege mich beim Spazieren, Wandern tänzerisch …

Ich lege mir eine originelle Karte an einen Ort, an dem ich oft vorübergehe, und schreibe darauf den Satz: „Du darfst auch scheitern.“

Wider-Stand: Ich stehe bewusst den Tag hindurch einen Moment gerade da. Mein achtsames Ein- und Ausatmen richtet mich von innen her auf. Ich lasse mir nicht alles

gefallen, sondern lerne, auch Sorge zu tragen für mich und meinen gesunden Arbeitsrhythmus.

Würdigen, was schon da ist: Ich nehme mir

einmal pro Monat einen Abend Zeit, um

aufzuschreiben, was alles schon da ist in

meinem Leben, was mir geschenkt ist und was

ich erarbeitet habe. Danach lese ich das

Aufgeschriebene einem lieben Menschen vor.

 
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