Es war eine kleine Pause beim Herbstkonzert des Brückenauer Kammerorchesters zwischen Joseph Haydns Ouvertüre zu seiner Oper "L'isola disabitata" - "Die unbewohnte (oder wüste) Insel" - und Wolfgang Amadeus Mozarts Sinfonie B-Dur KV 319. Die nutzte Chefdirigent Sebastian Tewinkel, um höchst charmant eine Frage zu beantworten, die immer wieder gestellt wird und die vor allem ihm auf die Nerven gehen müsste: Wozu braucht man eigentlich einen Dirigenten?
Vordergründig betrachtet ist die Frage ja gar nicht so dumm. Denn die Musikerinnen und Musiker haben ihre Noten, die sie spielen müssen, und aus deren Aussehen geht beispielsweise die Länge im Vergleich zu den anderen Noten hervor. Und das Tempo kann der Konzertmeister vorgeben. Ihre Einsätze finden die Musizierenden auch alleine. Das Problem ist nur: Das reicht nicht, um aus schwarzen Punkten Musik zu machen.
Es muss geklärt werden, wie die Noten gespielt werden sollen. Je älter die Werke, desto weniger Informationen oder Vorschriften enthalten die Notenblätter (bei zeitgenössischer Musik wird fast jeder Ton erläutert - was ja manchmal auch wirklich nötig ist). Und da kommt der Dirigent als Entscheider und Organisator ins Spiel. Tewinkel erläuterte das an einem völlig unspektakulären Satz: "Morgen gehe ich auf den Dreistelzberg." Wenn man diesen Satz sagt, und zwar vollkommen neutral und gleichmäßig, ohne Betonung, stimmliche Beschleunigung oder Tonhöhe, dann erntet man bestenfalls ein "Aha!" oder "Soso!". Interessant wird der Satz für den Hörer und die Hörerin erst, wenn einzelne Wörter besonders betont sind. Denn jede Betonung ergibt einen eigenen Bedeutungsinhalt, eine Mitteilung, die über die Wörter hinausgeht.
Und das ist bei der Musik nicht anders. Auch ihre Wiedergabe muss strukturiert und gestaltet sein, muss beschleunigt oder verlangsamt werden, laut oder leise, muss in den Klangfarben und Stimmungen wechseln, braucht Pointen, um Spannung zu erzeugen, um subjektiv zu werden. "Klangrede" nannte das Nikolaus Harnoncourt , "Lieder ohne Worte" hieß das bei Mendelssohn. Wenn das nicht funktioniert, kann man das daran merken, dass man mit seinen Gedanken plötzlich ganz wo anders ist, nur nicht bei der Musik.
Dass das für Sebastian Tewinkel nun wirklich nichts Neues ist, konnte man freilich schon vor dieser Erläuterung merken. Denn Haydns "Isola disabitata"-Ouvertüre war außerordentlich "klangredend" musiziert, zielte auf eine delikate, genau ausgehorchte Klangbildung der ersten breiten Akkorde, aus denen sich ein schwungvolles Musizieren mit stark akzentuiertem Vortrieb und einem kräftigen Klangfarbenspiel entwickelte, aus dem sich ganz unterschiedliche Szenerien ergaben von durchaus dramatisch bis zu tänzerischem Rokoko. Aber es war auch alles stets so transparent gehalten, dass sich die Bläserinnen und Bläser sehr gut zur Geltung bringen konnten und sehr schöne farbliche Akzente setzen konnten. Fast schade, dass dann nicht die Oper folgte.
Aber Mozarts B-Dur-Sinfonie war mehr als nur Tröstung, und das nicht nur, weil sie ein sehr virtuoses Werk ist, das schon vom technischen Aspekt her für Spannung sorgt, insbesondere in dem ernst genommenen Allegro assai der beiden Ecksätze. Wobei der erste Satz überraschend leise und delikat begann, was nicht nur für das Publikum die strukturelle Durchdringung erleichterte, sondern auch enorm viel Luft nach oben für die Gestaltung starker Kontraste und einer federnden Agogik. Sehr sanglich und schwebend - trotz einer markanten Tiefe - war das Andante moderato musiziert und machte so das etwas kantige Menuett zu einem überraschenden Kontrast.
Im Finale ging noch einmal die Post ab mit kräftigen Impulsakkorden, die ein höchst buntes, quirliges Getümmel auslösten. Trotzdem waren die Einzelstimmen immer sehr gut zu verfolgen. Und der Schluss mit seinem köstlichen dynamischen Verwirrspiel war wunderbar ausgekostet.
Viele Ideen enthalten
Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 2 B-Dur op. 19 (historisch sein erstes) ging - das kann man nicht anders sagen - nach Punkten deutlich an das Orchester. Sebastian Tewinkel hatte mit seinen Leuten ein Konzept ganz im Sinne der Klangrede erarbeitet - nicht nur innerhalb des eigenen Parts, sondern auch mit und gegenüber der Solostimme. Da steckten viele Ideen drin, die eine spannende Unterhaltung ermöglich und nachvollziehbar gemacht hätten.
Aber am Flügel saß die Spanierin Maria Dolores Gaitán. Man hatte sich ja, spätestens nach der Lektüre ihrer preisgekrönten Karriere einiges erwartet. Aber man wurde enttäuscht. Obwohl man zu Beginn, nach der animierten Orchesterintrade, ja noch Erwartungen hatte. Denn da begann Gaitán mit perlendem, klarem Anschlag und nicht nur mitlaufender linker Hand ihre Antwort auf das Orchester. Aber sehr bald stellte sich heraus, dass sie zu diesem Anschlag eigentlich keine Alternativen hatte, um mit dem Orchester auf Augenhöhe zu bleiben. Rhythmisch war sie sehr sicher, aber offensichtlich zu Lasten einer differenzierten Gestaltung.
Was aber wirklich ärgerlich war, war die schmerzende Beobachtung, dass sie das Konzert nicht wirklich in den Fingern hatte. Den ersten "Schmutzfleck" gab's im fünften Takt (geschenkt, kann in der Nervosität passieren; aber so jung ist sie auch nicht mehr). Aber in den schnellen Ecksätzen, insbesondere dem letzten, wenn sie unter virtuosen Druck geriet, neigte Maria Dolores Gaitán dazu, einzelne Töne nicht ganz zu treffen, Töne zu vertauschen oder gleich ganz wegzulassen. Das waren keine Zufälle. Denn wenn die Klangfiguren wiederholt wurden, wiederholten sich auch die Fehler. Wenn man derart bekannte Werke spielt, die auch das Publikum kennt, und man damit Probleme hat, sollte man zumindest über ein Fehlermanagement verfügen, das derartige Fehler harmoniekonform vertuscht. Aber hier fiel's halt auf. Schade! Als Zugabe spielte Maria Dolores Gaitán einen Satz von Ernesto Halffter: "Danza de la pastora". Das muss eine junge Schäferin mit verdammt schnellen Füßen gewesen sein.
Herr Ahnert hat es geschafft jeden einzelnen Ton zu kommentieren. 🤣