
Das Jahr ist erst mal zur Hälfte um, da hat Alexander Altay, der Leiter des Allgemeinen Sozialen Dienstes (ASD) im Jugendamt, schon eine ernüchternde Prognose für das ganze Jahr 2022 parat: Es werden heuer mehr Kinder und Jugendliche vom Jugendamt in Obhut genommen werden müssen als in den Vorjahren, sagte er jüngst im Jugendhilfe-Ausschuss. Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, für die man geschlossene Einrichtungen suchen muss, nehme schon jetzt zu und seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hätten es immer häufiger mit "herausfordernden" Familien zu tun.
Hat diese Entwicklung auch mit den Maßnahme während der Corona-Pandemie zu tun? Die Zunahme der Fallzahlen in der Jugendhilfe sei schon vor der Corona-Pandemie feststellbar gewesen, sagte Landrat Thomas Bold in der Sitzung. Inzwischen sei das Jugendamt das größte Sachgebiet am Landratsamt. "Und ich sehe auch keine Chance auf Besserung."

Die Großfamilie existiert nicht mehr
Die Familien- und Sozialstrukturen hätten sich in den vergangenen Jahren "dramatisch verändert", sagte Bold. Früher gab es die Großfamilien, heute würden den Kindern und Jugendlichen in den kleineren Familienverbänden oft die Ansprechpartner fehlen.
Die Corona-Pandemie hat die Situation aber offenbar zusätzlich verschärft. Schon vor einem Jahr hatte man vonseiten des ASD die Befürchtung geäußert, durch die während der Lockdowns verordnete Schließung von Kindertagesstätten und Schulen könnten bei Kindern und Jugendlichen langfristig Entwicklungs- und Erziehungsproblematiken entstehen und der Unterstützungsbedarf durch die Jugendhilfe könnte steigen.
Wenn Kinder und Jugendliche länger von sozialen Kontakten mit Freunden und ordnenden Tagesstrukturen in Schulen und Kitas abgeschnitten sind und isoliert zu Hause leben, so hatte man damals argumentiert, führe dies zu einer Verschlimmerung bereits bestehende Störungen. Hinzu komme, dass Erziehungsberechtigte in dieser Situation überfordert werden könnten und schließlich das Familiensystem kollabiert.
24 Inobhutnahmen pro Jahr waren bislang die Höchstzahl
Was die Zahl der Inobhutnahmen angeht, könnte 2022, nach Altays Angaben, jedenfalls ein "Rekordjahr" werden. Bis Mai 2022 verzeichnete man beim Jugendamt bereits 13 Fälle, in denen Kinder und Jugendliche aus verschiedenen Gründen aus ihren Familien herausgenommen werden mussten. In der Vergangenheit waren, über ein Jahr gerechnet, 24 Fälle die Höchstzahl, sagte Altay. Er befürchtet, dass es heuer bis zum Jahresende mehr als 30 Fälle werden könnten.
Seit November 2021 nehmen zudem die Selbstmeldungen zu. Das heißt, wie Altay erklärte, dass Kinder und Jugendliche, besonders weibliche, beim Jugendamt selbst um die Inobhutnahme bitten. "Und wir haben die Pflicht, sie dann zu schützen." Oft stelle sich in der Folge aber das subjektive Schutzbedürfnis dieser Kinder und Jugendlichen als falsch heraus.

Keine freien Kapazitäten in den Heimen mehr
Zum Beispiel seien angegebene Selbstverletzungen gar nicht vorhanden. Es würden Falschangaben gemacht, um die häusliche Situation zu dramatisieren, sagte Altay. Und angeblich geplante suizidale Handlungen würden "strategisch eingesetzt", um den eigenen Willen durchzusetzen.
Neu ist jetzt, wie Altay sagte, dass keine freien Kapazitäten in Heimen für diese Kinder und Jugendlichen zu finden sind - von Fulda bis Creglingen, beschreibt er die Spannweite der Suche. "Wir müssen regelrecht Klinken putzen gehen." Das bedeutet, nach Altays Angaben, einen erheblichen zeitlichen Aufwand und, bei vergeblichen Versuchen, auch eine belastende Drucksituation bei dem verantwortlichen Sozialarbeiter oder der Sozialarbeiterin.
Auch geschlossene Einrichtungen sind bundesweit belegt
Auch die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die in geschlossenen, also freiheitsentziehenden Einrichtungen, untergebracht werden müssen, nehme ganz klar zu, sagte Altay. 2022 gab es bereits drei solcher Fälle im Kissinger Jugendamt. Sonst sei alle fünf bis sechs Jahre einmal ein Fall verzeichnet worden. Auch hier frage das Jugendamt inzwischen bundesweit in Einrichtungen an – meist vergeblich, sagte Altay. Denn die Zunahme solcher Fälle sei in der gesamten Bundesrepublik spürbar.
Und auch dies ist inzwischen Realität: In der Familienhilfe haben es die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, laut Altay, fast ausschließlich mit "Multiproblemfamilien" zu tun, bei denen häufig die Problem-Einsicht fehle und man nicht auf Bereitschaft zur Mitwirkung stoße. Es handle sich in den meisten Fällen um hoch auffällige und stark entwicklungsgefährdete Kinder und Jugendliche, bei denen nicht selten eine psychiatrische Diagnose vorliege.
Eltern beantragen selbst Unterbringung ihrer Kinder
Zudem seien Eltern "zunehmend überfordert" und würden die Unterbringung ihrer Kinder selbst beantragen, weil sie der Verantwortung nicht mehr gewachsen seien. Aber auch Schulbegleitungen nehmen zu und der Schulabsentismus sei ein neues Phänomen unserer Zeit.
Es hätten sich während der Pandemie in dieser Zeit des Rückzugs zwei Gruppen von Kindern und Jugendlichen herauskristallisiert, sagte Streetworker und Kreisrat Christian Fenn (Die Grünen/BfU) in der nachfolgenden Diskussion: Die einen blieben zu Hause und lebten in der virtuellen Welt, die anderen gingen trotzdem 'raus und zeigten Interaktion. So sind, seiner Ansicht nach, Subsysteme mit eigenen Wertesystemen entstanden. Da müsse man in der Jugendarbeit jetzt neue Wege gehen.
"Was leisten Familien eigentlich noch?", diese Frage stellte Altay in den Raum. Er hatte gehört, dass in einer Schule jetzt Grundsätze der Körperhygiene gelehrt würden. Und in der Mittagsbetreuung der Kitas werde den Kindern der Umgang mit Messer und Gabel beigebracht. Er ließ durchblicken, dass das alles früher Aufgaben der Eltern waren.
CSU-Kreisrat Alexander Schneider und Bürgermeister in Geroda klinkte sich hier kritisch ein und gab eine Beobachtung aus dem Kindergarten seiner Gemeinde wieder: "Wir sollen die Kinder früh, wenn sie kommen, frisch wickeln und abends wieder bettfertig an die Eltern abgeben." Christian Fenn plädierte in diesem Zusammenhang dafür, wieder Verantwortung an die Eltern zurückzugeben.