
Die kulturhistorische und zeitgeschichtliche Reise haben Tergit-Kennerin Nicole Henneberg und Sigismund von Dobschütz präsentiert, der durch ausgewählte Textpassagen Einblick in die journalistisch geprägte Erzählweise vermittelte.
Das Kissinger So-Lebich-Café bot den Rahmen für eine interessante Schriftstellerin, die mit ihren jüdischen Wurzeln nicht nur das großbürgerliche Judentum porträtieren konnte, sondern in ihren Gerichtsreportagen und Romanen die Tiefen der nationalsozialistischen Diktatur spiegelte. Im Jahr 1894 geboren als Elise Hirschmann, verheiratete Elise Reifenberg und bekannt geworden als Gabriele Tergit und "als eine Frau mit riesiger Spannweite in ihren Werken", sagte Claudia Bollenbacher. Sie unterstützt als Inhaberin der Buchhandlung "Seitenweise" nicht nur die Jüdischen Kulturtage , sondern stellte auch die 1984 verstorbene Schriftstellerin sowie die Herausgeberin "mit dem in Bad Kissingen bekannten Namen Henneberg" vor.
Eine Kennerin der Lebensgeschichte Tergits
Nicole Henneberg entpuppte sich als eloquente und sympathische Kennerin der Lebensgeschichte von Gabriele Tergit und beschrieb diese als gradlinige und offene Frau, die kein Blatt vor den Mund nahm und in einer wohlhabenden jüdischen Familie in Berlin aufwuchs, "aber durch Spielen mit einfachen Kindern ihren Blick für die Armut schärfte". Eine erste Zeitungsreportage und die Erkenntnis "nichts zu können" führten in jungen Jahren zum Entschluss, gegen den Willen des Vaters das Abitur zu machen. Ein Studium in München und Heidelberg schloss sich an, und es folgte im Jahr 1924 der "Berliner Börsenkurier", wo sie als Gerichtsreporterin den journalistischen Einstieg in einer Männerdomäne wagte.
Blick hinter die Verhandlungen
"Die menschliche Geschichte hinter der Verhandlung war ihr wichtig", so Nicole Henneberg. Als nächste Stufe folgte ab 1925 eine Anstellung beim Berliner Tageblatt als die "Times" unter den deutschen Zeitungen. Gerichtsreportage und literarisches Erzählen vermischten sich zu einem besonderen Stil mit einem ungeschönten Blick auf die damalige Gesellschaft mit Armut und Gewalt. Dieser Stil beeinflusste ihren Debütroman "Käsebier erobert den Kurfürstendamm", der Ende 1931 als "Buch des Jahres" erschien. Journalistische Beiträge lieferte sie auch für die Weltbühne als weiteres Standbein und schriftstellerisch begann sie mit den Arbeiten zu ihrem zweiten Roman "Effingers".
Ein Überfall durch einen SA-Schlägertrupp im Jahre 1933 führte zur Flucht der Familie in die Tschechoslowakei, von dort nach Palästina und 1938 nach London. Nicole Henneberg wertete "Effingers" als "zeithistorischen Belege für das großbürgerliche Judentum". Über eine Zeitspanne von 1878 bis 1942 werden drei Familien dargestellt, miteinander verknüpft und viele aktuelle Bezüge dargestellt. Tergit erkannte im Londoner Exil, worauf die Entwicklung im Nazi-Deutschland hinausläuft: "Eine ganze Kultur wird zerstört." Eine Textpassage belegte dabei den äußerst detailreich beschreibenden Stil der Autorin, die nicht nur einen Blick für die Menschen, sondern auch für deren Traditionen und die sich daraus ergebenden Zwänge hatte.
Der Roman "Effingers" erschien 1951, hatte jedoch keinen Erfolg, "denn die Deutschen hatten noch keinen Bezug zu ihrer Geschichte". Erst 1975 sei er wiederentdeckt worden und wurde dank der mittlerweile 14. Auflage ein gigantischer Erfolg. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre folgte nach einigen Sachbüchern eine weitere Auseinandersetzung mit der Shoa unter der nationalsozialistischen Ideologie unter dem resignierenden Roman-Titel "So war's eben". Den geringen Erfolg begründete Nicole Henneberg mit einem schlechten Lektorat, denn die Figuren entwickelten ein gewisses Eigenleben und der Stil entsprach einem "Hyper-Realismus". Auch hier sei Gabriele Tergit ihrer Erzählstruktur treu geblieben und habe nicht nur aktuelle Bezüge eingebunden, sondern auch bekannte Persönlichkeiten bzw. Personen aus ihrem Umfeld porträtiert.
Nachlass in 33 Kisten
"Ihre Jahre als Gerichtsreporterin war ihre produktivste Zeit und Grundlage für ihren Blick auf die Gesellschaft", so Nicole Henneberg in ihrer abschließenden Wertung von Gabriele Tergit. Seit mehreren Jahren befasse sie sich mit der Schriftstellerin, die sie als "Historikerin und Chronistin ihrer Zeit" beschrieb. Ihr Nachlass bestehe aus 33 großen Kisten, davon sei die Hälfte archiviert, und "der Rest ist eine Wundertüte". Beispiele hierzu lieferte nochmals Sigismund von Dobschütz , unter anderem mit einer Gerichtsreportage zu "Prozess gegen Hitler", in der der pointierte Schreibstil Gabriele Tergits nochmals deutlich wurde.