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Bad Kissingen
Migrationsforscher Marcus Engler im Interview: Warum die Flüchtlingspolitik nicht gescheitert ist
Hat Deutschland die Kontrolle über die Zuwanderung verloren? Nein, sagt der Experte Marcus Engler: „Die Herausforderungen bei Aufnahme und Integration sind wirklich groß, aber man kann sie lösen“.
Flüchtlinge gehen in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu einem wartenden Bus.       -  Flüchtlinge gehen in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu einem wartenden Bus.
Foto: Symboldbild Boris Roessler/dpa | Flüchtlinge gehen in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu einem wartenden Bus.
Sigismund von Dobschütz
 |  aktualisiert: 10.08.2024 02:39 Uhr

Im November informierte das Landratsamt Bad Kissingen alle 26 Städte und Gemeinden, dass ab sofort damit zu rechnen sei, wöchentlich bis zu 25 Asylbewerber aus dem Ankerzentrum Geldersheim unterbringen zu müssen. Die Kommunen wurden aufgerufen, Unterkünfte zu melden. Auch an alle Privatpersonen wurde appelliert, Räumlichkeiten zu melden. Doch die Aufnahmefähigkeit vieler Kommunen scheint längst erschöpft zu sein. Auch die Aufnahmebereitschaft in der Bevölkerung scheint ihre Grenzen erreicht zu haben.

Dies gilt nicht nur für den Landkreis Bad Kissingen . Hat die Bundesregierung also die Kontrolle über die Zuwanderung verloren, wie manche behaupten? Oder ist dieser negative Eindruck nur die Folge einer allzu emotional, vielleicht sogar absichtlich tendenziell geführten Diskussion? Sollte man stattdessen rationaler und pragmatischer mit dem Thema umgehen? Wir haben Sozialwissenschaftler und Migrationsforscher Dr. Marcus Engler um seine Meinung gebeten.

Herr Dr. Engler, unter Kanzlerin Angela Merkel galt das berühmt gewordene Motto „Wir schaffen das!“, und die Öffentlichkeit schien damals über Jahre beruhigt. Inzwischen scheinen immer mehr Menschen dem Thema Asyl und Zuwanderung skeptisch gegenüberzustehen.

Marcus Engler: Zunächst einmal sollten wir die Vergangenheit im Rückblick nicht idealisieren. Es war auch 2015/16 so, dass die Aufnahme von Schutzsuchenden Politik und Gesellschaft polarisiert hat.

Es gab sogar einen Dauerstreit in der Bundesregierung und zahlreiche Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte. Viele Politiker*innen aus dem konservativen Lager haben immer wieder betont, „2015“ dürfe sich nicht wiederholen. Insofern ist die Entwicklung, die wir im Moment beobachten nicht grundsätzlich neu. Auch Anfang der 1990er Jahre war es ähnlich. Zugleich sollten wir nicht vergessen, dass es sowohl 2015/16 als auch jetzt viel Unterstützung in der Bevölkerung gibt, nicht nur Ängste und Widerstand.

Ist es die scheinbar grenzenlose Zahl der Zuwanderer, die vielen Angst macht? Oder haben Politik und Medien dieses Umdenken gefördert? Wer hat hier versagt?

Die Herausforderungen bei der Aufnahme und Unterbringung sind ähnlich hoch wie vor sieben Jahren. Die Zahlen sind jetzt sogar etwas höher. Andererseits kann man von der Erfahrung und den ausgebauten Strukturen von 2015/16 profitieren. Zugleich ist unsere Gesellschaft auch durch andere Krisen stark belastet. Ich sehe aber eine eindeutige Verbindung zwischen Befürchtungen in der Bevölkerung und den politischen und medialen Debatten der letzten Monate.

Ich denke, dass diese Ängste zu einem sehr großen Anteil nicht durch eigene Erfahrungen im Alltag ausgelöst werden. Über kaum ein anderes Thema wurde so viel berichtet, wie über Migration und Asyl - und das fast ausschließlich negativ. Es ging sehr viel um Begriffe wie Belastungsgrenze, Kontrollverlust oder Grenzschließungen.

Sozialwissenschaftler Dr. Marcus Engler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM)       -  Sozialwissenschaftler Dr. Marcus Engler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM)
Foto: Mehdi Bahmed | Sozialwissenschaftler Dr. Marcus Engler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM)

Die Schutzbedürftigkeit der Menschen ist verdrängt worden. Und auch die Chancen, die mit Einwanderung einhergehen, sind völlig in den Hintergrund geraten. Natürlich ist das Thema wichtig - aber einige Politiker und auch Medien übertreiben es vollkommen. Aus meiner Sicht haben wir es mit einer gezielten und leider auch erfolgreichen politischen Kampagne von AfD und Union zu tun. Sie haben es geschafft, dass andere wichtige politische Themen in den Hintergrund geraten sind. Ich denke da etwa an Klimapolitik, Fragen sozialer Gerechtigkeit, die Situation an den Schulen oder Wirtschaftspolitik. Das ist eine sehr problematische Entwicklung.

Parteiübergreifend klagen Landräte und Bürgermeister über nicht erfüllbare Forderungen der Bundesregierung . Es wird offen von Kontrollverlust gesprochen. Ist dieser Vorwurf gerechtfertigt? Was hätte seitdem besser gemacht werden müssen?

Im politischen Wettbewerb kommt es regelmäßig zu Vorwürfen und dem Zuweisen von Verantwortung an andere Akteure. Das ist Teil des politischen Geschäfts. Es hilft aber überhaupt nicht, bei der Lösung von realen Herausforderungen. Mein Eindruck in der jüngeren politischen Debatte ist, dass man es dieses Mal nicht „schaffen wollte“. Ein zentraler Streitpunkt war die Kostenteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Man hat hier mehrere Flüchtlingsgipfel und fast zwei Jahre gebraucht, um eine Einigung zu erzielen. Dies hat nicht nur immer wieder zu Streit und Verunsicherung geführt, sondern auch dazu, dass Kommunen keine wirkliche Planungssicherheit hatten.

Die Herausforderungen bei Aufnahme und Integration sind wirklich groß, aber man kann sie lösen. Neben der Unterbringung von Geflüchteten betrifft das auch die bessere personelle Ausstattung etwa in Behörden, Schulen und Kitas. Wir müssen diese Herausforderungen annehmen. Es ist ja Realität, dass so viele Menschen zu uns gekommen sind – inzwischen sind es ja viel weniger als 2022. Den Kopf in den Sand zu stecken und sich eine andere Wirklichkeit zu wünschen, hilft wirklich niemandem.

Ist wirklich allein die Bundespolitik für mögliche Versäumnisse verantwortlich, wie oft behauptet wird?

Nein, das ist eine sehr vereinfachte Sicht auf die Dinge. Die Hauptverantwortung für Fluchtbewegungen liegt bei jenen, die andere Menschen verfolgen oder Kriege beginnen. Also bei Leuten wie Wladimir Putin , Bashar al-Assad oder den Taliban , um nur einige zu nennen. Verantwortlich ist letztlich auch die Weltgemeinschaft insgesamt, die es trotz zahlreicher Erklärungen bisher nicht geschafft hat, eine globale Flüchtlingspolitik zu entwickeln, bei der sich alle Staaten in gerechter Weise beteiligen. Deutschland engagiert sich hier sehr stark, durch finanzielle Zahlungen, aber auch durch die Aufnahme von Schutzsuchenden. Zum Glück möchte ich sagen. Man kann sicher darüber streiten, wie man die globale Verantwortungsteilung für Flüchtlinge am besten organisiert.

Aber eine Politik, die nur bis zur deutschen Außengrenze denkt und als einziges Ziel formuliert, dass keine Menschen mehr zu uns kommen sollten – wie es etwa AfD und Union formulieren – greift viel zu kurz und kann auch nicht funktionieren. Wir brauchen mehr internationale Zusammenarbeit und nicht weniger. Ich sage nicht, dass man hier schnelle Lösungen finden kann. Aber es ist aus meiner Sicht, der einzig vernünftige Weg.

Die Willkommensbereitschaft der deutschen Bevölkerung scheint mit den Jahren ausgereizt und erschöpft. Die sachliche Argumentation wird in der Öffentlichkeit schnell von der emotionalen abgelöst. Was muss Ihrer Meinung nach geschehen, um zur pragmatischen Behandlung des Themas Zuwanderung wieder zurückkehren zu können?

Das stimmt leider. Und wir sehen diese Emotionalisierung und Polarisierung auch bei anderen Themen. Die öffentliche Diskussion um Flucht und Asyl ist stark geprägt von „fake news“. Es gibt, nicht nur in den sozialen Medien, sondern auch in den Parlamenten nicht Wenige, denen die Fakten vollkommen egal sind und deren politisches Geschäft darin besteht, Ängste zu verstärken. Leider verfolgt inzwischen auch die Union unter Friedrich Merz eine derartige Strategie. Das zahlt sich im Moment vielleicht in Wahlumfragen aus.

Der Schaden für die Demokratie und den sozialen Zusammenhalt ist aber erheblich, wenn radikale Positionen, wie die Abschaffung des individuellen Asylrechts durch Parteien der Mitte salonfähig gemacht werden. Die Verankerung des Asylrechts im Grundgesetz und die Genfer Flüchtlingskonvention sind wichtige zivilisatorische Errungenschaften. Die Geschichte hat gezeigt, was passieren kann, wenn Staaten keine rechtlichen Verpflichtungen haben, sondern vollkommen frei entscheiden, ob sie Schutz gewähren oder nicht. Daran gilt es zu erinnern.

Zur Person:

Marcus Engler studierte Sozialwissenschaften und Volkswirtschaftslehre an der Humboldt-Universität zu Berlin und am Institut d’Etudes Politiques (Sciences Po) in Paris. Anschließend promovierte er im Fach Soziologie an der der Humboldt-Universität und am deutsch-französischen Forschungszentrum Centre Marc Bloch.

In den vergangenen Jahren war Engler in unterschiedlichen Funktionen in der Migrationsforschung und Politikberatung tätig. U.a. arbeitete er beim Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), für das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR), die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), die Humboldt-Universität zu Berlin und das Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück. Zuletzt war er als freiberuflicher Forscher und Berater für zahlreiche Organisationen und Forschungsprojekte im In- und Ausland tätig.

Er ist Mitglied im Vorstand des Netzwerks Fluchtforschung, Co-Leiter des FluchtforschungsBlogs und Mitbegründer des Arbeitskreises Aktive Aufnahmepolitiken. Seit September 2020 forscht er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Migration am Institut des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin und befasst sich mit Flucht- und Migrationsbewegungen sowie mit deutscher, europäischer und globaler Flüchtlings- und Migrationspolitik.

 

 

 

 

 

 
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  • Roland Albert
    Er studierte, er promovierte, er war tätig als…
    Er ist ein Theoretiker Par excellence.
    Er muss weder etwas leisten noch zahlen.
    Er philosophiert über Dinge, die nicht leistbar geworden sind.
    Solche Leute sind Brandstifter…
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