
Über den wohl bedeutendsten deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724 bis 1804), der mit seinem Hauptwerk „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) die moderne Philosophie begründete, sind schon unzählige Bücher erschienen.
Doch der seit einigen Jahren in Bad Kissingen lebende Philosoph Prof. Dietrich Böhler (83) hält es für dringend geboten, sich gerade heute an die Lehren Kants , der als Denker der Aufklärung den europäischen Kontinent in die Moderne geführt hat, zu erinnern. Scheint doch in Zeiten unkontrollierbarer Meinungsverbreitung in sozialen Medien – vor allem während politischer Wahlkämpfe – die Lehre der „reine Vernunft“ im Sinne Kants zunehmend in Vergessenheit zu geraten.
Deshalb veröffentlichte Böhler kürzlich im LIT Verlag anlässlich des 300. Geburtstags des großen Denkers sein Buch „Unser Aufklärer Kant . Eine narrative, zuweilen diskursive Hommage als Hinführung“.
Objektivität vs. Meinung
„Der argumentative Diskurs wird heute durch eine Art Gegenaufklärung des Relativismus bedroht“, meint Böhler. Es gibt kein allgemein gültiges Grundverständnis mehr, sondern jede Meinungsäußerung folgt den Interessen einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit.
Böhler: „Jeder hat eine Meinung, ohne sie selbst objektiv begründen zu können.“ Gerade in sozialen Netzwerken , wo ohnehin kein Raum für ausführliche Begründungen ist, und in der Unübersichtlichkeit der Medien ist nur schwer auszumachen, was objektiv richtig oder nur eine weitergegebene Meinung vermeintlicher Autoritäten ist.
Die Medien würden zudem von aufklärungs- und freiheitsfeindlichen Staaten wie Russland und China, aber auch innerstaatlich von rechts- und linksradikalen Parteien missbraucht, stellt Böhler fest.
Auch für Leser ohne philosophische Kenntnisse
„Dies hat mich provoziert“, war für ihn Anlass zur Veröffentlichung seiner 80-seitigen Abhandlung. Sein Buch, das auch für Leser ohne philosophische Kenntnisse verständlich ist, dient als Hinführung in das Denken Kants hinsichtlich seiner Bedeutung für die Aufklärung in Europa, „ein unabschließbares Projekt, für dessen Fortsetzung wir als vernünftige Bürger verpflichtet sind“.
So zeigt der Autor zunächst den jungen Kant als Studenten der Aufklärung zwischen dem englischen Universalgelehrten Isaac Newton (1643 bis 1727) und dem deutschen Philosophen Gottfried Leibniz (1646 bis 1716). Dann als eigenständigen Denker, der sich auf den Weg zu seiner Kritik der Vernunft macht, um das Philosophieren aus bloßem Spekulieren auf die sichere Bahn einer kritischen Methodik zu führen.
Angriffe auf das Projekt der Aufklärung
Aus Kants Vorlesung „Über Pädagogik“ erfahren wir, was es heißt, selbstständig zu denken, und dass Moral im eigentlichen Sinn praktische Vernunft bedeutet. Über Kant hinaus ist Vernunft als kommunikativer Diskurs zu verstehen, der dem Doppelprinzip folgt: „Verhalte dich so, dass die Auswirkungen deines Handelns verträglich sind mit der Achtung der Menschenwürde und einem verantwortungsfähigen Leben auf Erden. Dann verdient deine Handlungsweise die Zustimmung aller als Diskurspartner, die einzig sinnvolle Argumente gelten lassen.“
Den Kissinger Philosophen, Autor vieler Fachbeiträge und Sachbücher sowie langjährigen Professor an der FU Berlin sorgen die heutigen Angriffe auf das Projekt der Aufklärung, „paradoxerweise mit Unterstützung aus den Universitäten“.
Zudem werde die Aufklärung im Laufe der Globalisierung von einigen Vertretern des globalen Südens als „eurozentrisch“ diffamiert, klagt Böhler. Nach seiner Beobachtung zählt heute die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oft mehr als die Argumente, die jemand vorzubringen hat, wenn dieser nicht selten sogar daran gehindert wird oder zum Schweigen gebracht wird.
Schutz der Errungenschaften der Aufklärung
Böhler: „Gruppenzugehörigkeit scheint heute oft mit Expertise gleichgesetzt zu werden.“ Das lautere Schreien einer Gruppe oder das autokratische Auftreten von Führungsfiguren droht nach Ansicht Böhlers viele Menschen eher zu überzeugen als objektive Argumente, „die meist etwas komplexer und weniger schrill und schnell zu haben sind“.
Hieraus folgert der Kissinger Philosoph, dass, wenn schon das Projekt der Aufklärung in heutiger Zeit nicht weiter ausgebreitet werden kann, wir zumindest die Errungenschaften der Aufklärung in Europa und der westlichen Welt zu hüten versuchen sollten. Als Beispiel nennt er bessere Bildung oder das Knüpfen der Einwanderung an Bedingungen und Werte. In keinem Fall aber, meint Dietrich Böhler, dürfen Feinde der Aufklärung und freiheitlicher Institutionen und Traditionen ins Land gelassen werden.
Bedrohung aus unterschiedlichen Richtungen
Die Aufklärung wird aktuell aus verschiedenen Richtungen bedroht – von Terrorstaaten und Rechtsradikalen über aufklärungsfeindliche Wissenschaftsgebiete bis zu Islamisten –, fasst der 83-Jährige abschließend zusammen.
Die von der Aufklärung geforderte Toleranz habe dort ihre Grenzen, „wo die Bedingungen ihrer Möglichkeit angegriffen werden und sie sich dadurch selbst aufheben würde“. Denn mit dem Begriff der Vernunft, der nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch zu verstehen ist, meint Kant einen kommunikativen und diskursiven Prozess, der auf gemeinsame Verständigung und Verantwortlichkeit abzielt. Kants Ethik und sein Verständnis der Menschenwürde sind auch heute von großer Bedeutung für gesellschaftliche und politische Fragen.
Informationen zum Buch: Dietrich Böhler: „Unser Aufklärer Kant . Eine narrative, zuweilen diskursive Hommage als Hinführung“, LIT Verlag, Taschenbuch , 80 Seiten, Preis: 19,90 Euro, ISBN 978-3-643-15600-6
