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Maßbach
Intimes Theater in Maßbach sorgt für superguten Abend
Bei "Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone" in Maßbach ist der Hauptdarsteller ständig auf Kollisionskurs mit der Welt der Anderen.
Ein einer  schiefen Ebenen mit vielen Klappen, tauchen plötzlich und überraschend die Personen auf. Foto: Sebastian Worch       -  Ein einer  schiefen Ebenen mit vielen Klappen, tauchen plötzlich und überraschend die Personen auf. Foto: Sebastian Worch
| Ein einer schiefen Ebenen mit vielen Klappen, tauchen plötzlich und überraschend die Personen auf. Foto: Sebastian Worch
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 18.08.2022 22:30 Uhr
Man fühlt sich sofort wie in einem Elternabend an der Förderschule. Man weiß ja, dass ein Theaterstück gezeigt werden soll. Aber man weiß plötzlich auch, dass es ungemütlich werden wird. Denn eigentlich schüttelt man der Truppe des Theaters gerne die Hand. Aber das sind nicht Silvia Steger, Ingo Pfeiffer, Susanne Pfeiffer, Anna Schindlbeck und Lukas Redemann, die den Eingang behindern und sich durch die Reihen quetschen, um die guten alten Bekannten zu begrüßen, sondern das sind die Lehrerin Shioban, Ed und Judy Boone, die Eltern des Hauptdarstellerss und, noch schlimmer, auch Autors, Mrs. Gascoigne, die Direktorin der Förderschule, und Reverend Peters, der Religionslehrer, die da auf einen zusteuern.

Mit klammernder Freundlichkeit wird man in die Pflicht des Wohlmeinens genommen. Aber Wegbleiben wäre unangenehm aufgefallen. Wäre man aber gerne. Denn eigentlich weiß man schon alles. "Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone" war angekündigt. Deshalb waren ja wohl auch die Eltern so zudringlich bei der Begrüßung. Irgend so ein Autist ist dieser Christopher, der die Welt irgendwie komisch wahrnimmt, irgend so einer. Und der hat ein Tagebuch geschrieben, das man sich anschauen soll. Was kann da schon drin stehen? Wie will man so etwas auf die Bühne bringen?


In seinem Koordinatensystem unterbringen


Die ganze Zeit schon kauert Christopher Boone (Benjamin Jorns) vorne auf der Bühne auf einer schiefen Ebene und hat seine rechte Hand auf die Flanke des vor ihm liegenden Nachbarhundes gelegt. Der rührt sich nicht vom Fleck. Nicht, weil er nur als Kontur mit Kreide auf den Boden gemalt ist. Sondern weil er tot ist: In seiner Flanke steckt eine banal-brutale Mistgabel. Man sieht, wie Christopher bemüht ist, das, was er da sieht und fühlt, in seinem Koordinatensystem unterzubringen. Als er damit fertig ist, sagt er in der ihm eigenen lakonischen Klarheit: "Ich werde den Mörder finden." Und man glaubt es ihm.

In sein Inneres lässt Christopher nicht hineinblicken, aber man bemerkt Symptome: Er kennt alle Länder der Erde und ihre Hauptstädte sowie alle Primzahlen bis 7507 (das sind 967 - übrigens auch eine Primzahl). Körperliche Berührungen versetzen ihn in Panik, er hasst Unordnung und die Farben Gelb und Braun. Dafür liebt er Rot. Wenn er morgens fünf rote Autos hintereinander sieht, ist das für ihn ein superguter Tag. Komme was wolle. So denkt er sich durch seine Welt, ständig auf Kollisionskurs mit der Welt der Anderen. Und hält sie sich gleichzeitig auf Distanz, wenn er den Kopf in seinen Integralhelm mit Klappvisier steckt - in dem nur noch seine zahme Ratte Toby manchmal Platz hat.


Genial einfaches Bühnenbild

Der Engländer Mark Haddon brachte 2003 seinen Roman "The Curious Incident oft he Dog in the Night-Time" heraus, der sofort zum Bestseller wurde. Simon Stephens erstellte daraus 2013 eine Bühnenfassung, die Christian Schidlowsky jetzt im Intimen Theater inszeniert hat. Er erliegt gar nicht erst der Gefahr, das Stück in der Realität anzusiedeln. Da hätte er nur scheitern können. Sondern er macht es zum Modell, das den Zuschauer nie daran zweifeln lässt, dass es wirklich nur Theater ist. Das schafft er mit einem genial einfachen Bühnenbild (Andreas Wagner): eine schiefe Ebene mit vielen Klappen, aus denen plötzlich und überraschend die Personen auftauchen - insgesamt sind es ja 26 Rollen - vielleicht wie im Gehirn von Christoper. Das schafft er mit wunderbar bunten Kostümen (Jutta Reinhard), der Farbigkeit sich an der Sympathieskala von Christoper orientiert; und mit kruden, verwurschtelten Schaumstoffperücken (Kathrin Hartmann), die das Unterscheiden erleichtern. Vor allem aber schafft er es mit einer akribisch genauen Personenregie - das Spiel mit den Klappen erfordert eine enorm pünktliche Präzision - und mit ungemein vielen kleinen und großen Beobachtungen und Gesten jenseits des Textes. Es gibt viel zu lachen, aber nie auf Kosten des - geschätzt - 16-Jährigen Autisten. Im Gegenteil. Man kommt ihm immer näher, weil man ihn immer mehr einschätzen und "lesen" lernt.

Freilich ist auch Benjamin Jorns als Christopher Boone ein absoluter Glücksfall. Man fiebert und leidet mit ihm mit, wenn es hinter seiner Stirn heftig denkt und er mit leerem Blick ins Publikum schaut. Er spielt ihn konsequent und bis zum Schluss hoch konzentriert aus, diesen Spagat zwischen dem mathematischen Genie eines Einsteins und der Hilflosigkeit eines Kleinkinds. Man ist bei ihm, wenn er nervös über seine schiefe Ebene tigert und vor lauter Aufregung nur in rechten Winkeln gehen kann. Man würde ihm gerne helfen, wenn er mal wieder eine unmenschlich schwierige Entscheidung treffen muss. Denn für ihn gibt es kein Taktieren und auch kein Lügen. Und er hat es schwer: Hund tot, Mutter mit dem Nachbarn nach London durchgebrannt - die er natürlich suchen will, aber: Wo ist der Bahnhof, was ist eine Fahrkarte? - und zum Schluss auch noch die Mathematikprüfung in Gefahr! Aber es geht gut aus.


Erstaunliche Präzision

Das würde es nicht, wenn das Kollegenquintett nicht so wunderbar mitspielen würde. Das ist enorm viel Lust am Intensiven, am Knalligen, am Lustigen, am Absurden. Denn das Quintett ist ja nicht nur die mehr oder weniger feindliche Umgebung sondern auch die Geräuschkulisse oder der Lärm der Großstadt (Anna Schindlbeck als Geldautomat sollte man sich nicht entgehen lassen). Und da ist eine ganz erstaunliche Präzision im Zusammenspiel der Abläufe. Kein Wunder, dass das alles beängstigend wirken muss auf den jungen Christopher mittendrin. Das Fazit kann kurz, muss aber heftig sein: "Superguter Abend oder Der nicht enden wollende Beifall für Christopher Boone".
 
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