Seit August steht Detlev Tolle der unterfränkischen Polizei vor. Der 58-jährige ist in Hammelburg geboren, aufgewachsen und lebt bis heute mit seiner Frau im Saaletal. Der unterfränkische Polizeipräsident hat drei Kinder und mittlerweile zwei Enkel, eine Tochter ist selbst Polizistin. Im Interview mit der Redaktion spricht er über den Umgang mit Corona-Spaziergängen, Vorbeugung vor staatsfeindlichen Umtrieben in den eigenen Reihen und seine Bilanz der ersten sechs Monate.
Sehr geehrter Herr Tolle, Sie sind jetzt seit einem halben Jahr im Amt, was war die größte Überraschung?
Was mich am meisten negativ getroffen hat, war die Tatsache, dass Corona uns in unsere Büros gezwungen hat. Als Polizist redet man eigentlich viel mit Menschen, als Polizeipräsident, dachte ich, komme ich mit der Politik und den Menschen in Unterfranken ins Gespräch. Das musste weitestgehend ausfallen. Es gab bisher leider nur wenige Treffen mit unseren Mandatsträgern oder den für unsere tägliche Zusammenarbeit immens wichtigen anderen Behörden, den Kommunen, der Feuerwehr, dem Rettungsdienst etc.. Selbst wenn wir bei uns im Präsidium, teils mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Home-Office Besprechungen abhalten, erfolgt dies - wie in so vielen anderen Berufen aktuell auch - digital in Video- oder Telefonschalten. Das hätte ich mir nie vorstellen können, aber es funktioniert.
Wird das vielleicht sogar bleiben?
Ich hoffe nicht, die Polizei ist kein Beruf, in dem man digital miteinander kommuniziert, sondern es kommt intern, aber vor allem auch im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern aufs persönliche Gespräch an.
Und was lief wie erwartet?
Ich bin auf viele engagierte und hoch motivierte Kolleginnen und Kollegen getroffen, so dass ich sage: Die unterfränkischen Bürger sind in den besten Händen.
Laut dem Bundespräsidenten hat "der Spaziergang seine Unschuld verloren": Wie viele Kräfte binden die Gegner von Corona-Maßnahmen und wie ist die aktuelle Sicherheitslage in Unterfranken ?
Der Bundespräsident hat Recht. Wir haben eine Vielzahl von so genannten "Spaziergängen", in der Spitze waren es mal 22 an einem Tag. Die Betreuung dieser Versammlungen stellt für uns tatsächlich eine große Herausforderung dar. In diesem Zusammenhang wird gerne ein Bild bemüht, dass ich nur unterstreichen kann: Die Kolleginnen und Kollegen kommen kaum noch aus den Einsatzstiefeln. Hinzu kommt, dass die Organisatoren oftmals die Versammlungen bewusst nicht anzeigen. In der Konsequenz haben weder die Kommune, noch wir als Polizei die Möglichkeit, kooperativ mit den Verantwortlichen den ordnungsgemäßen Ablauf im Vorfeld zu besprechen. Schaut man sich die Zahlen an, wird die Herausforderung für uns noch deutlicher: Wir hatten 2021 insgesamt 806 Versammlungen, das war ein Plus von 40 Prozent im Vergleich zu 2020, und mehr als die Hälfte waren in Zusammenhang mit der Corona-Pandemie , mit Schwerpunkt in den Monaten November und Dezember. In der Summe hatten wir - dankenswerter Weise mit Unterstützung der Bereitschaftspolizei - insgesamt mehrere tausend Beamtinnen und Beamte im Einsatz.
Der Tod von zwei Polizisten hat in der vergangenen Woche Deutschland erschüttert. "Wer die Polizei angreift, greift uns alle an", sagte Ministerpräsidentin Dreyer : Kommt die Unterstützung an?
Der Tod und die Anlass-Tat sind für uns erschreckend. Auch wenn es niemals einen Grund für ein derart schreckliches Verbrechen geben kann, ist aus polizeilicher Sicht der Anlass "Jagdwilderei" ein vollkommen nichtiger. Dass das zu einer so schrecklichen Tat führt, hinterlässt uns besonders fassungslos. Die Polizei ist eine große Familie, es trifft uns alle, egal ob es um Kolleginnen oder Kollegen aus Bayern oder Rheinland-Pfalz geht. Ich muss aber auch sagen, dass das Einzelfälle sind. Wir hatten in Bayern in den vergangenen zehn Jahren derartige Verbrechen an Polizeibeamten und -beamtinnen sehr, sehr selten. In Unterfranken muss ich vor allem an Berthold Schlotzhauer denken. Er war beinahe auf den Tag genau vor 22 Jahren beim Dienst in Aschaffenburg von einem Straftäter erschossen worden, als er einen Streit schlichten wollte. Über die Rückendeckung der Politik, aber auch der Gesellschaft freuen wir uns natürlich sehr.
Und wie sehr erschrecken Sie einzelne polizeifeindliche Kommentare?
Das sind wir ja gewohnt. Wir haben einen Beruf, in dem es schon immer dazu gehört hat, dass manche Menschen nicht sonderlich gut auf uns zu sprechen sind. Sie haben ja selbst vor kurzem über Schmierereien mit dem Spruch "All Cops are Bastards" berichtet. Da haben wir eine große Gelassenheit. Aber wenn jetzt Sprüche wie "Zwei Cops weniger" fallen, dann ist das schon eine andere Qualität. Es ist wichtig, Hass und Hetze als Feinde unserer Demokratie gemeinsam als Gesellschaft konsequent entgegen zu treten.
Wie sieht es in Unterfranken aus?
Bei all den Befürchtungen über die Verrohung der Gesellschaft sowie dem Verlust von Respekt und Anstand auch gegenüber der Polizei , unterstützen die unterfränkischen Bürgerinnen und Bürger ihre Polizei . Wir fühlen uns wohl und haben keinerlei Misstrauen. Ich glaube, die Unterfranken sind grundsätzlich mit der Polizei zufrieden und umgekehrt ist es auch so. Und Polizisten sind eher hart im Nehmen. Was mir mehr Sorgen macht, ist die verbale Gewalt etwa gegen Notärzte, Feuerwehrleute oder Kommunalpolitiker.
Auch das hat oft eine neue Qualität, wenn etwa Namen und Adressen in Telegram kursieren? Ist das ein rechtsfreier Raum?
Es gibt keinen rechtsfreien Raum. Allerdings gibt es zum Beispiel bei Telegram die Möglichkeit, sich anonym und damit einhergehend manchmal völlig losgelöst von Anstand, Respekt und Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens zu äußern. Hier muss und wird es dem Rechtsstaat gelingen, die Betreiber in die Verantwortung zu nehmen und eine strafrechtliche Verfolgung zu ermöglichen. Es ist in keiner Weise akzeptabel, wenn zum Beispiel Kommunalpolitiker, auch im Ehrenamt, samt ihren Familien bedroht werden. Hier schreiten wir konsequent mit allen rechtlichen Möglichkeiten ein.
Blicken wir mal nach Innen: Was tun Sie, um Polizeibeamte gegen staatsfeindliches Gedankengut immun zu machen?
Man kann aus meiner Sicht niemanden ganz gegen staatsfeindliches Gedankengut immun machen, auch nicht Polizisten. Wir haben sehr vereinzelt Fälle - von Reichsbürgern bis zum Sympathisieren mit der rechten Szene. Wir tun allerdings sehr viel, die Kolleginnen und Kollegen hier immer wieder zu sensibilisieren. Ich habe zum Beispiel bei meiner Antrittsrede darauf hingewiesen, dass wir diesbezüglich eine Null-Toleranz-Haltung haben. Demnächst startet beim Polizeipräsidium Unterfranken auch ein Projekt, in dem alle Führungskräfte zum Thema Extremismusprävention in der Polizei sensibilisiert und geschult werden. Wir verschließen gerade davor unsere Augen nicht! Und gerade deshalb widerspreche ich vehement, wenn mir jemand vorhält, die Polizei sei auf dem rechten Auge blind.
Was gibt es an Kontroll-Mechanismen?
Der wichtigste Mechanismus ist bei den Kolleginnen und Kollegen selbst tief verankert: Keiner von ihnen will mit einem Extremisten gleich welcher Art einen Streifenwagen oder ein Büro teilen. Deshalb kann ich auch sagen: Wenn es Fälle gab, waren es fast immer Kolleginnen und Kollegen aus der eigenen Dienststelle, die sagen: Hier läuft etwas schief, und dann ihre Vorgesetzten ins Vertrauen gezogen haben. Kontrollmechanismen sind auf allen Vorgesetztenebenen fest etabliert. Gemeinsam mit dem Polizeilichen Sozialen Dienst oder dem Personalrat als zusätzliche Ansprechpartner sowie Angeboten der interkulturellen Schulung sind wir hier breit aufgestellt.
Sie haben also keine Sorge vor falsch verstandenem Korpsgeist?
Habe ich nicht, und die Fälle, die wir hatten, waren immer Einzelfälle, das muss man auch sagen.
Ihnen ist Bürgernähe besonders wichtig ist: Was haben Sie schon getan, was wollen Sie noch tun?
Das ist in der Tat mein absolutes Leib- und Magenthema. Ich selbst war immer Bürgerpolizist, der nah an den Menschen war. Corona macht uns hier aber aktuell einen Strich durch die Rechnung. Die Bürgernähe, die wir meinen, und ein ansteckendes Virus sind so nicht leicht vereinbar. Wir haben in Unterfranken zum Thema Sicherheit im öffentlichen Raum ein Kompetenzzentrum eingerichtet, das für die gesamte bayerische Polizei zuständig ist. Hier beschäftigen wir uns mit der Frage, wie wir noch näher an die Bürgerinnen und Bürger und ihre Anliegen ran kommen. Konkret geht es zum Beispiel um Fuß- und Fahrradstreifen bis hin zu noch besserem Schutz vor Straftätern, wie Trickbetrügern und falschen Polizeibeamten .
Deutschland ist statistisch ein sehr sicheres Land. Wie kommt es, dass das subjektive Sicherheitsgefühl oft nicht zu den niedrigen Zahlen passt?
Man nimmt Kriminalität einfach viel stärker wahr als früher. Das beunruhigt die Menschen, obwohl wir faktisch hier sehr, sehr sicher leben. Ich habe bei einem Vortrag in Hammelburg die Zuhörer mal gefragt, was sie glauben, wie viele Wohnungseinbrüche es im laufenden Jahr im Zuständigkeitsbereich der Hammelburger Polizei gab. Die Leute schätzen so zwischen 100 und 200. Tatsächlich hatte es in dem Jahr keinen einzigen gegeben.
Ist die unterfränkische Polizei personell und materiell gut genug ausgestattet für alle Aufgaben, auch neue wie Corona-Maßnahmen und Internet-Kriminalität?
Ja, das sind wir. Die Frage ist, wie lange das noch ausreichend ist. Wir haben aktuell ein Programm, das die bayerische Polizei zusätzlich mit 3500 Stellen ausstattet, davon profitiert Unterfranken mit 180 Stellen. Dennoch haben wir einige Kriminalitätsphänomene, die uns wirklich Sorgen machen. Zum Beispiel die Kinderpornographie mit einem wahnsinnig hohen Ermittlungsaufwand, und zwar weltweit. Die Gegenseite arbeitet mit Hochleistungsrechnern in Rechenzentren, da müssen wir als Polizeipräsidium Unterfranken erst einmal dagegen halten. Das betrifft auch das Personal, weil wir IT-Fachkräfte mit entsprechender Qualifikation brauchen. Auch die Infrastruktur ist wahnsinnig schnelllebig. Deshalb stelle ich mir zusammen mit meinen Führungskräften schon die Frage: Wie lange ist gut noch gut genug?
Und passt die Struktur noch?
Die Polizei muss und wird als direkter Ansprechpartner immer vor Ort nah und greifbar bei den Menschen sein. Gedanken machen wir uns vor allem im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung, also bei der Kriminalpolizei. Nehmen wir das Thema Kinderpornographie: Da kann man keinen Fall einfach liegen lassen. Deshalb haben wir diesen Bereich intensiviert und noch professioneller aufgestellt.
Haben Sie noch genügend Bewerber für den Polizeidienst?
An mir ist tatsächlich ein Einstellungsberater verloren gegangen, ich führe immer wieder daheim Beratungs- und Einstellungsgespräche. Der überzeugendste Satz ist da immer, dass ich seit 42 Jahren jeden Tag gerne auf die Arbeit gehe. Das ist für mich absoluter Luxus. Insgesamt haben wir noch genügend Bewerber, aber es gab im vergangenen Jahr einen vielleicht auch Corona bedingten Rückgang.
Die neue Bundesregierung will Cannabis legalisieren: Erwarten Sie eher Erleichterungen für die Polizeiarbeit durch Entkriminalisierung des Kiffens oder eine Verharmlosung von Drogen?
Ich bin immer eher auf der Seite derer, die mahnen. Ich halte Cannabis für keine banale Droge. Wir haben inzwischen in Unterfranken mehr Drogen- als Alkoholfahrten. Und die Fahrer sind eben nicht voll verkehrstüchtig, obwohl sie sich vielleicht selbst so einschätzen. Eine Angst ist, dass die Ausgabestellen für Drogen zu Hotspots werden, wo sich auch Jugendliche aufhalten. Eine andere Angst ist zum Beispiel, dass wir in einen Preis-Wettkampf geraten, also die kriminellen Gruppen die Abgabestellen unterbieten. Damit wäre nicht viel gewonnen.
Zuletzt ein Blick nach vorne: Wie sehr werden Corona und der G7-Gipfel die bayerische Polizei belasten? Oder andersrum: Haben Sie persönlich das Jahr schon weitgehend abgeschrieben?
Corona belastet uns tatsächlich, aber ich hoffe - dienstlich und privat -, dass es ab April aufwärts geht: Irgendwann muss das Leben mal wieder in normalen Bahnen laufen. Auch beim G7-Gipfel sind wir mit einer hohen Kräftezahl dabei, wir haben schon viele unterfränkischen Kolleginnen und Kollegen in die Vorbereitungsstäbe geschickt. Aber ich würde weder als Privatmensch, noch als Polizeipräsident ein ganzes Jahr abschreiben. Ich gehe davon aus, dass ich auch heuer Urlaub machen kann. Ich reise sehr gerne, meistens mit dem Wohnmobil, aber ich fliege auch gerne mal weg. Davon lasse ich mich auch heuer nicht abbringen.
Das Gespräch führte Ralf Ruppert, aus Platzgründen haben wir einzelne Fragen gestrichen, die komplette Version finden Sie auf www.infranken.de .