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Bad Kissingen
„Wir haben Dich nicht gerufen“
Interkulturelles Zusammenleben und Integration vor 80 Jahren waren die Themen eines offenen Gesprächskreises. Und da gab es viel zu erzählen.
Zeitzeuge Bodo Sengstock (von rechts) mit Ehefrau und zwei Zuhörerinnen beim offenen Gesprächskreis des Seniorenbeirats       -  Zeitzeuge Bodo Sengstock (von rechts) mit Ehefrau und zwei Zuhörerinnen beim offenen Gesprächskreis des Seniorenbeirats
Foto: Sigismund von Dobschütz | Zeitzeuge Bodo Sengstock (von rechts) mit Ehefrau und zwei Zuhörerinnen beim offenen Gesprächskreis des Seniorenbeirats
Sigismund von Dobschütz
 |  aktualisiert: 16.10.2024 02:46 Uhr

„Interkulturell“ und „Integration“ sind die aktuellen Schlagworte. Doch auch schon vor 80 Jahren – bei Kriegsende und noch Jahre danach – mussten Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus den deutschen Ostgebieten im Westen aufgenommen, integriert und die sich daraus ergebenden kulturellen Unterschiede bewältigt werden. Zwar ist ein direkter Vergleich zur Bewältigung des heutigen Flüchtlingsproblems nur bedingt möglich, doch sind vielleicht gewisse Grundprinzipien erkennbar?

Mit dieser Frage beschäftigte sich im Rahmen der vom Integrationsbeirat veranstalteten 12. Interkulturellen Woche ein offener Gesprächskreis auf Einladung des Seniorenbeirats .

Zeitzeugen

Als Zeitzeugen hatte Beiratsvorsitzender Hermann-Josef Dresbach den Bad Kissinger Neubürger Bodo Sengstock (83) eingeladen, der erst im September 1957 als Spätaussiedler aus Polen in die Bundesrepublik kam.

„Was willst du, Polacke? Wir haben dich nicht gerufen!“ Diese Beleidigung musste sich der 16-jährige Sengstock von Kollegen in seinem Ausbildungsbetrieb anhören, nachdem er im westfälischen Siegen eine Lehrstelle gefunden hatte. Mit seiner Familie war er aus Lupow (heute Łupawa, Hinterpommern) gekommen. Viel zu spät hatten sich die Eltern bei Kriegsende einem letzten Treck nach Danzig angeschlossen. „Wir kamen nur zehn Kilometer weit, dann holten uns die Sowjets ein.“

Eine spätere Übersiedlung in den Westen wurde nicht erlaubt, da die Polen die Deutschen als Arbeitskräfte brauchten. „Damals als Kind musste ich mich nun in Polen zum ersten Mal integrieren.“

Die meist evangelischen Deutschen und katholischen Polen bemühten sich im Ort um ein Miteinander: „Wenn die Deutschen Karneval feierten, haben die Polen gern mitgefeiert.“ Die Kinder trieben gemeinsam Sport und gingen zusammen in die Schule. Sengstock: „Wir haben uns bemüht, gut Polnisch zu lernen, um uns zu integrieren.“

Erst nach Stalins Tod (1953) gab es über das Deutsche Rote Kreuz die Möglichkeit der Übersiedlung in den Westen zum Zweck der Familienzusammenführung. Es dauerte noch drei Jahre, bis Familie Sengstock zum ältesten Sohn nach Nordrhein-Westfalen ziehen durfte.

„Dort waren wir alle auf uns selbst angewiesen. Es gab keine Amtshilfe“, machte Sengstock den Unterschied zur heutigen Flüchtlingshilfe deutlich. Und die Aufnahme im Westen war keineswegs freundlich. „Sogar die Schwiegermutter meines Bruders hat uns nicht gemocht.“

Doch die Flüchtlinge brachten sich überall ein, wo Arbeitskraft und Hilfe nötig war. „Das war unser Beitrag zur Integration.“ Als Sengstock von seinem Ausbildungsbetrieb nicht übernommen wurde, verpflichtete er sich 1960 für sechs Jahre bei der Bundeswehr und kam nach Hammelburg, wo er seine spätere Ehefrau kennenlernte und mit ihr die nächsten Jahrzehnte lebte.

Im katholischen Unterfranken musste sich der evangelische Sengstock ein drittes Mal integrieren. „Unterfranken ist jetzt meine zweite Heimat.“

Benachteiligt und diffamiert

In der Gesprächsrunde tauschten die Seniorinnen und Senioren, von denen manche seit Generationen einheimisch, andere selbst als Flüchtlingskinder nach Unterfranken gekommen waren, ihre unterschiedlichen Erfahrungen aus. Wenn etwas gestohlen worden war, verdächtigte man damals die Flüchtlinge, war zu hören. Einheimische, meist katholische Kinder durften nicht mit den evangelischen Kindern aus dem Osten spielen, da die Eltern es verboten hatten. In der Schule wurden Flüchtlingskinder immer als Letzte in die Volleyball-Mannschaft gewählt und bekamen in der Klasse die schlechtesten Plätze.

Mädchen durften keine Liebschaften mit jungen Männern aus dem Osten haben. Diese Animosität gegenüber Ostflüchtlingen scheint erst in den 1960er Jahren verschwunden zu sein, wie andere meinten.

Manche Einheimische hatten aber auch positive Erfahrungen machen können: „Durch das Zusammenleben mit Flüchtlingen haben wir viel gelernt.“ In jedem Fall aber waren Flüchtlinge und Vertriebene in den ersten Nachkriegsjahren auf sich allein gestellt und mussten ihr Leben im Westen aus eigener Kraft aufbauen.

„Vielleicht verhindert ein übermäßiges Hilfsangebot jede Eigeninitiative?“, folgerte eine Teilnehmerin daraus im Vergleich zur heutigen Situation. „Man muss ja nicht arbeiten.“

Hierzu gab Bodo Sengstock ein Gespräch mit einem Polen wieder. Dieser bekäme, so dessen Aussage, in Deutschland mehr Geld, als wenn er in Polen arbeiten würde.

Auch wurde argumentiert, deutsche Gesetze und Bürokratie würden jede mögliche Eigeninitiative von Asylsuchenden abblocken. „Sie dürfen ja gar nicht gleich arbeiten.“ Vielleicht sei dies der größte Fehler des deutschen Systems, wurde daraus gefolgert, denn nur „wenn ich gefordert werde, bringe ich auch Leistung und kann mich integrieren“.

Manche wollen zurück in die Heimat

Andererseits würden vielleicht manche Kriegsflüchtlinge sich gar nicht integrieren wollen, gab Ana Maria Benevides Werner, Vorsitzende des Integrationsbeirats, zu bedenken, da sie doch hoffen, nach Kriegsende wieder in die Heimat zurückkehren zu können.

Die engagierte Diskussion musste Beiratsvorsitzender Dresbach schließlich abbrechen: „Dieser Themenbereich wird nie zum Abschluss kommen.“ Er nehme aber für sich aus dem Gespräch mit, dass „Eigenverantwortung ein wichtiges Schlüsselwort“ dabei ist.

Bodo Sengstock ergänzte: „Man muss Integration wollen“, womit er gleichermaßen Asylanten und Deutsche meinte, „und aufeinander zugehen.“

Der Gesprächskreis über interkulturelles Zusammenleben und Integration vor 80 Jahren       -  Der Gesprächskreis über interkulturelles Zusammenleben und Integration vor 80 Jahren
Foto: Sigismund von Dobschütz | Der Gesprächskreis über interkulturelles Zusammenleben und Integration vor 80 Jahren
Zeitzeuge Bodo Sengstock (83, Mitte) mit Ehefrau und Hermann-Josef Dresbach, Vorsitzender des Seniorenbeirats       -  Zeitzeuge Bodo Sengstock (83, Mitte) mit Ehefrau und Hermann-Josef Dresbach, Vorsitzender des Seniorenbeirats
Foto: Sigismund von Dobschütz | Zeitzeuge Bodo Sengstock (83, Mitte) mit Ehefrau und Hermann-Josef Dresbach, Vorsitzender des Seniorenbeirats
 
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