Beim Start für den Kissinger Sommer gab es zwei Premieren: Herzklopfen hatten nicht nur die Künstlerinnen und Künstler. Für den Intendanten des Kissinger Sommers, Alexander Steinbeis, war es auch eine Premiere, über die er im Interview berichtet.
Herr Steinbeis, das erste Wochenende des Kissinger Sommers 2022 ist überstanden. Kurz gefragt: Wie war's?
Alexander Steinbeis: Also für mich hat es alle Erwartungen übertroffen. Ich bin voller Freude. Die erste Anspannung, die man natürlich vor Beginn eines solchen Festivals hat, ist abgefallen. Und es war für mich großartig zu sehen, dass die ganzen Projekte, die man sich über viele Wochen und Monate ausgedacht hat, jetzt endlich Realität geworden sind, dass die eine oder andere Hürde, die man ja auch zu überwinden hatte, auch überklommen werden konnte. Aber genauso, wenn nicht sogar mehr, hat mich gefreut, wie das Programm in all seiner Vielfalt vom Publikum aufgenommen wurde. Weil ich viel positive Resonanz spüre, weil ich merke, dass es bei den Menschen ankommt. Viele Leute kommen auch direkt auf mich zu und geben mir ein Feedback. Das finde ich schön, denn damit lässt sich auch was anfangen. Die Gewerke sind hochgefahren, der Kissinger Sommer läuft, und jetzt haben wir noch ein paar Wochen vor uns. Und ich bin weiterhin voller Vorfreude auf das, was noch vor uns liegt, und natürlich gespannt darauf, wie die Menschen reagieren.
Bei so viel Freude: Haben sich schon Leute über irgendetwas beschwert?
Gute Frage. Ich bekomme immer noch den einen oder anderen Kommentar zum "Schnitzel-Motiv" auf dem Heft. Das war jetzt tatsächlich auch noch mal ein Thema am Wochenende. Mal überlegen: Über die Hitze draußen hat man sich beschwert, aber da kann ich nun wirklich nicht viel dafür. Aber es gab nichts über Musikalisches oder Programmatisches. Vielleicht kommt's ja noch. Manche Leute schreiben ja auch gerne Briefe.
Der erste Schreck kam ja gleich beim Eröffnungskonzert, als der Tenor Benjamin Bruns kurzfristig für die "Csárdásfürstin" absagte. Wo kam sein Ersatzmann so plötzlich her? War das sehr mühsam?
Thomas Blondelle ist mir sehr schnell in den Sinn gekommen, weil ich ihn in der Rolle des Edwin schon mal gehört habe bei den Operettenfestspielen in Bad Ischl im letzten Sommer . Er war mir noch sehr präsent. Als die Bruns-Absage kam, bin ich schnell online gegangen - die meisten Künstler haben ja mittlerweile ganz gute Websites mit ihren Auftritten, und habe gesehen, dass ein Einspringen zumindest kalendarisch klappen könnte. In so einem Fall kontaktiert man dann natürlich den Agenten. Die Herausforderung lag in zwei Punkten: zum einen, dass er am Vorabend des Probenbeginns noch eine Vorstellung an der Komischen Oper in Berlin hatte und am nächsten Vormittag bei der Orchesterprobe in Frankfurt sein musste. Da hat er nach seiner Vorstellung in Berlin eine kurze Nacht gehabt und hat sich morgens um 4 Uhr ins Auto gesetzt. Der andere Punkt: Wir hatten in der Operette eine Arie drin: "Heut nacht hab ich geträumt von dir", die aus der Operette "Die Veilchen von Montmartre" stammt. Die hatte er noch nie gesungen. Das hat er dann aber auch ganz wunderbar gemacht, allerdings mit Noten. Das sehe ich ihm natürlich nach. Im Nachhinein, muss ich sagen, ist das sehr glatt gelaufen. Ein echter Profi.
Wie sieht Ihre künstlerische Bewertung des Bisherigen aus?
Alexander Steinbeis: Meine künstlerische Bewertung für das bereits gelaufene ist sehr positiv. Ich überlege gerade, ob es Überraschungen gab. Ich war ja schon immer ein großer Fan von Alain Altinoglu, dessen Karriere ich seit Jahren verfolge. Ich war überrascht, wie er sich eingelassen hat auf das, was für uns wichtig war, angefangen beim Programm selbst. Er hat das wirklich komplett so übernommen. Ich hatte ihm das vorgeschlagen. Und obwohl er weder die Liszt-Tondichtung als auch die "Csárdásfürstin" je dirigiert hatte, hat er gleich gesagt: "Jawohl, ich mache das. Und ich fand höchst beeindruckend, wie er sich auf das natürlich riskante Medium Operette eingelassen hat, mit was für einem Feinsinn und Flexibilität und auch Empfindsamkeit er das angegangen ist. Er ist halt ein begnadeter Operndirigent, was hilft. Er hat toll mit dem Orchester gearbeitet.
Er hat ja wohl auch ein Händchen für "unordentliche" Veranstaltungen wie einen Symphonic-Mob?
Ja, durchaus. Am nächsten Tag beim Symphonic-Mob draußen im Kurgarten hat er den richtigen Mix aus Stimmung und Freude an der Sache, aber gleichzeitig auch Gestaltungswillen gezeigt. Das finde ich bemerkenswert. Gut, wir hatten eine einstündige Probe angesetzt. Was will man mit 300 Menschen, die natürlich bunt zusammengewürfelt sind - das hr-Orchester als Basis und dann die vielen Hobbymusiker unterschiedlichen Standards - wie will man das auf den Punkt bringen. Altinoglu hat es wirklich geschafft, bei jedem Stück in der Probe eine Verbesserung hinzukriegen - nicht nur technisch, sondern auch musikalisch. Das fand ich bemerkenswert. Und da konnten die Menschen, die schon bei der Probe zuhörten, beobachten: Was passiert eigentlich in so einer Probe? Wieso probt man überhaupt? Das war, glaube ich, für viele ein augenöffnender Moment.
Und ansonsten?
Die übrigen Veranstaltungen waren sehr unterschiedlich; meine Erwartungen sind übertroffen worden. Ich habe schon immer große Stücke auf das Fauré-Quartett gehalten, aber was die vier Leute geboten haben, das hat mich echt umgehauen.
Geht's so weiter?
Ja klar geht's so weiter. Wollen wir doch mal schwer hoffen. Es muss so weitergehen. Bei einer solchen Menge an Programmen muss man natürlich immer damit rechnen, dass auch mal was passieren kann. Künstler sind auch nur Menschen wie du und ich. Jeder hat gute Tage, schlechte Tage; und die Erwartungen sind hoch. Es sind allesamt Profis. Aber natürlich kann auch mal was sein, und wir habe es schon gemerkt mit dem Tenorausfall. Wir haben bei den beiden Konzerten der Wiener Symphoniker am 9. und 10. Juli einen neuen Dirigenten, einen sehr jungen Dirigenten. Patrick Hahn. Der ist zwar Wiener, aber das ist natürlich eine andere Nummer, wenn der Chefdirigent kommt. Aber den gibt es dort im Moment nicht, weil Andrés Orozco-Estrada das Orchester vorzeitig verlassen hat.
Gestern und heute gibt es eine Premiere. Es ist im Vergleich zu früher, dass beim Kissinger Sommer die Montage und Dienstage spielfrei sind. Wie ist die Entscheidung entstanden?
Es war zunächst erst mal eine Bauchentscheidung, weil ich ja hier keinen eigenen unmittelbaren Erfahrungswert habe. Aber es ist mir auch von verschiedenen Seiten - und damit meine ich nicht nur den Stadtrat und die Stadtverwaltung - gespiegelt worden, dass es vielleicht in der Vergangenheit manchmal auch ein gewisses Überangebot gegeben haben könnte. Das ist ja auch kein Geheimnis, sondern eine der universellen Wahrheiten: Die Montage und Dienstage sind grundsätzlich auch in der Großstadt die Tage, an denen es am schwierigsten ist, Publikum zu gewinnen. Und deshalb habe ich mir erst mal gesagt: Weniger ist mehr. Wir wollen, dass die Menschen kommen. Wir strukturieren das Angebot um. Was bleibt, ist, dass an den Wochenenden das Angebot sehr dicht gesteckt ist. Denn Menschen, die ein verlängertes Wochenende machen, nehmen sich viel eher Donnerstag und Freitag frei als Montag und Dienstag. Das ist so eine psychologische Komponente. Wenn wir in ein paar Jahren oder wann auch immer sagen: Die Zahlen sprechen für sich, es ist so positiv, wir manchen wieder mehr, dann können wir das immer noch tun. Aber mir ist lieber, dass die Menschen jetzt sagen: "Ach, ist das schade, dass heute Abend nichts stattfindet!", als dass wir Schwierigkeiten haben, Konzerte zu verkaufen.
Wie ist der Vorverkauf denn überhaupt gelaufen?
Wir sind in den ersten Monaten nach Veröffentlichung des Programms sehr stark gestartet, ab Februar bis Mitte März, was mir gezeigt hat, dass wir bei unserem Stammpublikum den richtigen Nerv getroffen haben. Wir hatten danach im April einen Durchhänger, und ab Mitte Mai hat's dann wieder angezogen. Was wir insgesamt feststellen, ist, dass immer noch eine gewisse Verunsicherung in der Gesellschaft herrscht: Corona ist nicht vorbei. Und es kommt hinzu, dass Europa im Krieg ist, dass wir eine starke Inflation haben, dass die Spritpreise hochgeschnellt sind. Ich glaube schon, dass das bei vielen Menschen zu einer gewissen Verunsicherung führt und dass man dann gewisse Entscheidungen, die nicht notwendigerweise sofort getroffen werden müssen, vertagt; kurzum: Es gibt mehr Menschen, die kurzfristiger entscheiden. Das ist nicht nur bei uns so, sondern das ist ein allgemeines Phänomen. Umso wichtiger ist es, dass wir gerade jetzt, während des Festivals, weiterhin unsere Promotion und Marketingaktivitäten aufrechterhalten, weil wir wissen, dass auch zum Schluss noch Potenzial besteht.
Es ist unterm Strich ja nicht schlimm, wenn die Leute spät kaufen und kommen.
Ja, und ich meine, es ist jetzt noch zu früh für ein Fazit. Aber wir merken bei bestimmten Konzerten, dass sich die Menschen später entscheiden. Solange sie sich dafür entscheiden, braucht uns das nicht zu stören.
Ich habe nach dem Mob-Konzert im Kurgarten immer wieder die Frage gehört: "Wird es nächstes Jahr wieder einen Symphonic-Mob geben?"
Die Frage habe ich auch schon gehört. Also, ich sage jetzt, wie bei allem, was wir beim Kissinger Sommer tun: Wir legen jetzt erst mal einen starken Kissinger Sommer 2022 hin. Das betrifft jedes Konzert, das betrifft jedes Format. Natürlich habe ich auch in die Zukunft geschaut, und 2023 ist ja nicht weit weg, und, klar, sprechen die Reaktionen für sich. Das ist toll, und das freut mich riesig. Aber ich möchte nicht jetzt, wenn wir noch mittendrin sind, große Entscheidungen treffen. Das machen wir dann danach.
Gibt es noch Veranstaltungen, wo Sie noch mit Problemen rechnen, die nicht 100-prozentig planbar sind. Macht Ihnen irgendetwas noch Kopfzerbrechen? Oder ist alles in trockenen Tüchern?
In trockenen Tüchern ist alles. Es gibt bei dieser Ballung an Aktivitäten natürlich immer wieder Vorkommnisse, die kann man nicht antizipieren, dafür kann man nicht planen. Ich rechne natürlich mit Überraschungen, das gehört dazu. Unsere Aufgabe ist es, diese zu lösen, und zwar so, dass es möglichst wenige Menschen mitbekommen. Ganz konkret kann ich jetzt nicht auf eine bestimmte Veranstaltung deuten. Aber wir haben natürlich Projekte, die mit großem Aufwand verbunden sind. Ich bin mal gespannt auf den 15. Juli, wenn wir das Stegreif-Orchester zu Gast haben, wenn die gesamte Parkett-Bestuhlung im Max-Littmann-Saal ausgeräumt wird und dann dort auch mit Requisiten gearbeitet wird - wie das alles umgesetzt wird, vor allem auch noch mit Menschen im Saal. Das wird noch spannend.
Heuer ist - die beiden Corona-Jahrgänge ausgenommen - das erste Festival ohne Grigory Sokolov. Ist das das Ende einer Tradition oder Zufall?
Das ist reiner Zufall. Das ist wirklich reiner Zufall. Für mich war erst mal nichts gesetzt oder, wie man so sagt, "in Stein gemeißelt". Ich weiß natürlich, dass Sokolov hier auch zur Familie gehört, wie viele andere Künstler des Kissinger Sommers, und auch einer sehr treue Fangemeinde hat. Da wird man jetzt, in die Zukunft blickend, so etwas einbeziehen, ohne es zu verraten. Aber das ist wirklich Zufall, dass er jetzt nun mal nicht dabei ist. Für mich war, als ich angefangen habe, nichts gesetzt.
Haben Sie schon mal den Wechsel aus dem armlehnenbewehrten Sessel des Orchesterchefs in Berlin auf den Schleudersitz des Kissinger Sommers bereut?
Nein. Überhaupt nicht. Nicht eine Minute. Mir macht die Aufgabe unheimlich viel Spaß, mir geben das Festival und die Stadt mit ihren Menschen unheimlich viel zurück. Und im Moment ist meine Verfassung eine Mischung aus Freude, dass wir so ein rundes Eröffnungswochenende hatten, und Antizipation, was die nächsten Wochen noch bringen.
Das Interview führte Thomas Ahnert.