
Man kann Rainer Kussmaul und Raimar Orlovsky, die beiden Berliner Philharmoniker , gut verstehen, dass sie 1995 mit ein paar Streicherkollegen aus ihrem Orchester die Berliner Barocksolisten gegründet haben. Denn es gibt so viel hochkarätige und spannende Musik aus der Zeit des Barock und den Anfängen der Frühklassik, die sie gerne spielen wollten, aber nicht konnten, weil sie in den Programmen ihres Orchesters keine für sie keine all zu große Rolle spielten. Der Grund ist ein doppelter: Zum Einen ist die Musik der Barockzeit und der anschließenden Jahre trotz oder vielleicht auch gerade wegen der andauernden Debatten über die historische Aufführungspraxis nur für eine – allerdings keineswegs kleine – Minderheit interessant, lässt sich nicht so ohne weiteres vermarkten. Zum Anderen kann man Bachs Matthäuspassion natürlich mit einem großen Sinfonieorchester aufführen. Aber für derart große Klangkörper haben Bach und seine Kollegen und Kolleginnen nicht komponiert. Größere Orchester gab es damals nur bei weniger finanziell potenten und musikinteressierten Fürsten. Aber auch die gingen nicht über die heutigen Kammerorchester hinaus. Die heutigen großen Orchester wie die Berliner Philharmoniker sind geprägt von der Klassik und Romantik und öffnen sich allmählich in die andere Richtung: zur Moderne. Natürlich könnten die Berliner mit dem vollen Besteck eine frühklassische Streichersinfonie spielen. Aber dann müsste das halbe Orchester zuhause bleiben: die Bläser, deren Gehalt weiterläuft. Das wäre halt unwirtschaftlich. Einige der Instrumente waren damals allerdings auch noch gar nicht erfunden.
Historische Spielhaltung der Solisten
So machten die Berliner Barocksolisten die Barockmusik zu ihrer vom Konzertalltag abgekoppelten Privatangelegenheit. Große Investitionen waren dafür nicht erforderlich: Man kann nicht sagen, dass sie extra auf alten Instrumenten spielen, sondern auf denen, die sie auch im Orchester einsetzen. Die können natürlich auch alt sein. So manche Geige, manches Cello war vermutlich schon 100 Jahre alt, als Johannes Brahms seine 4. Sinfonie schrieb. Oder sie können auch Bach nicht gekannt haben. Andererseits spielt Christian Tetzlaff , Solist und Dirigent des Konzerts im Max-Littmann-Saal, ein Instrument, das der Bonner Geigenbauer Stefan Peter Greiner vor rund 30 Jahren gebaut hat. Gut, die Bögen sahen damals anders aus und wurden auch anders gespielt. Und auch in der Entwicklung der Saiten hat sich einiges getan.
Was bei den Berlinern historisch ist, ist die Spielhaltung. Sie musizieren mit einem angenehmen und durchaus schönen Ton, den die radikalen Fundamentalen so vehement ablehnen, mit wenig Vibrato und warmen Klangfarben und einer sinnfälligen, sich aus der Musik heraus entwickelnden Dynamik. Und sie verdeutlichen sehr klar die Strukturen der Musik, die somit zu einem ebenso emotionalen wie intellektuellen Erlebnis wird. Gerade dadurch wurde der Unterschied der beiden Komponisten des Abends, Vater und Sohn, deutlich: Johann Sebastian Bach , der Berühmte, und Carl Philipp Emanuel Bach , der noch Berühmtere, zumindest damals oder: J. S., der formal Vollendete, und C. P. E., der Gefühleschreiber.
Ein Talent an der Oboe
Den Anfang machte das Konzert für Oboe und Streicher B-Dur Wq 165 con CPE Bach. Und da trafen sich Vater und Tochter: Marie Tetzlaff hat es wirklich nicht nötig, sich über ihren berühmten Vater zu definieren; und sie tut es auch nicht, denn sie würde auch als Lieschen Müller Karriere machen. Aber wenn schon mal Vater und Tochter zusammen auftreten … Marie Tetzlaff hat einen wunderbaren Oboenton, sehr weich und singend, ohne jede störende Arbeitsgeräusche – Klang pur. Und sie ist eine souveräne Virtuosin, die in den schnellen, tänzerischen Figuren der beiden Ecksätze und den vielen Verzierungen diesen Ton bewahrt und nie unter Druck geriet. Und sie ließ sich auf das Zusammenwirken mit dem Orchester ein, trat in wunderschöne Dialoge oder Imitationen. Eines war besonders auffallend: wie sie sich im zweiten, langsamen Satz in die lange Einleitung des Orchester hineinschlich und ganz langsam hörbar wurde.
Keine Zeit zum Luftholen in der Musik
Und dann der Vater . Man fragte sich schon, wer oder was oder welcher Teufel Christian Tetzlaff in dem Konzert für Violine, Streicher und Basso continuo d-Moll BWV 1052 und später genauso im Violinkonzert g-Moll BWV 1056 R geritten hat. Wem wollte er da etwas beweisen? Seiner Tochter vielleicht? Aus der Fußball-EM waren wir doch schon raus! Die Ecksätze in den beiden Konzerten waren derart heruntergesäbelt, derart unsinnig oder irrsinnig schnell, dass es keinen Spaß machte zuzuhören. Da konnten sich keine Strukturen entwickeln, weil alles überspielt war. Wie soll denn eine Musik etwas erzählen, wenn sie nicht einmal Luft holen kann. Seine Kollegen konnte er damit nicht in Schwierigkeiten bringen – sie lieferten auch Strukturen. Aber er selbst muss manchmal schon ganz schön in die Knie gehen, um sich wieder einzufangen. Dazu kam, dass in dieser Verdichtung, obwohl Tetzlaff ein ausgesprochen sauberer Intonierer ist, sich die Töne überlagernd ballten, dass sie falsch klingen konnten, obwohl sie es nicht waren. Schade. Die ruhigen Mittelsätze entschädigten ein bisschen.
Emotionales Spiel der Streicher
Und auch die Symphonie für Streicher Es-Dur Wq/H deest von CPE Bach, die genügend Zeit und Ruhe bekam, um sich zu entwickeln. Da entstand eine kreative Spannung durch eine stark terrassierte Dynamik der klar gezeichneten Einzelteile, das entwickelte das Andante eine ruhige Sanglichkeit mit sinnfälligen Atemzäsuren. Und im Allegro assai belauerten sich in einem leicht pulsierenden Spiel die einzelnen Stimmen. Erstaunlicherweise wurde der eigentlich erwartete konstruktive Höhepunkt des Konzerts auch der emotionale mit J. S. Bachs Ricercar à 6 c-Moll für Streicher aus »Das musikalische Opfer« BWV 1079. Also sechs Streicher von Violine bis Kontrabass, die mit großer Ruhe und plastischer Gestaltung durch die Hervorhebungen des Themenkopfes ruhig fließend musizierten und durch die Individualisierung der Stimmen den Hörer auch emotional erreichten.
Ein harmonisches Ende
Und zum Schluss Vater und Tochter gemeinsam bei J. S. Bachs Konzert für Oboe, Violine, Streicher und Basso continuo d-Moll BWV 1060R. War es die besänftigende Kraft der Oboe oder der Tochter? Gut, gegen Marie Tetzlaffs singendes Musizieren wollte und konnte Christian Tetzlaff keine Virtuosität um ihrer selbst willen setzen. So fügte er sich und sang mit in wunderschönen Zwiegesprächen mit der Oboe und dem Tutti. So hätte es weitergehen können.