Die "Besondere Reihe" im Theater Schloss Maßbach trägt ihren Namen zu Recht. Sie ist tatsächlich eine. Was vor ein paar Jahren im Kaminzimmer als Podium der Selbstdarstellung von einzelnen Schauspielern und Kleingruppen begann, die so die Möglichkeit bekamen, sich mit einem eigenen Programm an einem Abend dem Publikum ungestört zu präsentieren, hat diesen Anspruch zwar nicht verloren, aber wesentlich erweitert. Sie ist zu einer gewichtigen Ergänzung des Spielplans geworden, zu einem Vermittlungsinstrument, das Blicke hinter die Kulissen der Stücke ermöglicht und tiefere Einsichten bietet. Und sie ist damit auch zu einem Diskussionsforum geworden, in dem sich Schauspieler und Publikum auf Augenhöhe begegnen - ein Angebot, das auf wachsendes Interesse stößt.
Im Grunde genommen ist das eine Win-win-Situation - so wie jetzt bei dem Besondere-Reihe-Abend zu Hans Falladas Roman "Der Trinker", der in einer unmittelbaren autobiographischen Beziehung zu "Kleiner Mann, was nun steht", das noch bis zum Wochenende im Intimen Theater läuft. Doppelter Gewinn deshalb, weil die Maßbacher zum einen sich und ihre Publikum das Sozialpädagogentheater ersparen, das zurzeit vor allem in Berlin unfröhliche Urständ feiert. Denn was hat man davon, wenn etwa Obdachlose Obdachlose oder Trinker Trinker spielen, denen die nötige Distanz fehlt, um irgendetwas darzustellen. Das überlässt man in Maßbach denen, die das Darstellen gelernt haben. Und weil so zum anderen - und das ist das zweite "win" der Situation - in einem zugehörigen Themenabend gemeinsam mit Fachleuten inhaltliche Tiefen erreicht werden können, die andernfalls nicht erreichbar wären.
Der "Trinker"-Abend war da exemplarisch. Und er war gut gegliedert. Zunächst stellte Sebastian Worch, Dramaturg des Hauses, schlaglichtartig das Leben von Hans Fallada vor, der 1893 als Rudolf Ditzen in Greifswald geboren wurde und bereits mit 53 Jahren 1947 im Hilfskrankenhaus in Niederschönhausen seiner Morphiumsucht erlag. Das Pseudonym musste er sich auf Druck des Vaters zulegen, der um seinen Ruf als Richter am Kammergericht in Leipzig fürchtete.
Worch zeichnete schlaglichtartig Falladas Leben als einen rasanten Schlingerkurs in den Abstieg. Es war beherrscht von Alkohol und Morphium, von Kontrollverlust und Gewalttätigkeit, von Wegesperrt-Sein, Sanatorien und Gefängnissen. Trotzdem hatte er immer wieder erstaunliche lichte Phasen, in denen er 24 zum Teil recht humorvolle Romane, sechs Kinderbücher und zwei Autobiographien schrieb. Und er schrieb schnell. Sein letzter Roman, "Jeder stirbt für sich allein", ein 800-Seiten-Wälzer, entstand in Niederschönhausen in 24 Tagen - 33 Seiten pro Tag! Trotz des Entgleisten Lebens, so Worch, wurde Fallada zu einem der populärsten Vertreter der neuen Sachlichkeit, der mit präziser Alltagssprache plastische Bilder seiner Zeit zeichnete.
Ingo Pfeiffer hatte einige Ausschnitte aus dem Roman "Der Trinker" ausgewählt, die die ganze Zwiespältigkeit des Bewusstseins von Hans Fallada belegen, die, obwohl auch manches Anekdotische dabei war, durchaus beklommen machen konnten. Denn er zeichnete in seine Lesebeträgen einen Menschen, der sich ständig überschätzt, der enorm viel Intelligenz aufwendet, um sich selbst über seine Situation hinweg zu betrügen, der jeglichen Sinn für die Realität verloren hat, sie aber trotzdem erstaunlicherweise immer wieder ganz klar sieht.
Er zeigte, wie Fallada sich gesehen hatte: Als einen Menschen, der zwar jeglichen Halt verloren hat, der aber jederzeit und aus eigenem Willen wieder festen Boden unter die Füße bekommen kann, und der der Erste war, der sich das auch glaubte. Dass er der Einzige war, nahm er überhaupt nicht zur Kenntnis. Und auch nicht, dass sich sein Zustand durch den exzessiven Gebrauch von Drogen aller Arten nicht nur objektiv, sondern auch subjektiv verschlechterte.
Den Einstieg in die Diskussion lieferte Theaterchefin Anne Maar , die als Expertin Ilse Bieniek, die Leiterin der Beratungsstelle für Suchterkrankungen des Diakonischen Werkes Schweinfurt eingeladen hatte. Die bestätigte, was man schon befürchtet hatte: "Falladas Buch zeigt eine sehr realistische Suchtentwicklung." Auslöser für Alkoholismus gebe der verschiedene. Am häufigsten seien es depressive Erkrankungen und sehr oft von leistungsorientierten Menschen, die sich selbst unter Druck setzen, alles gut machen zu wollen, und an ihren eigenen Ansprüchen zerbrechen. Aber der Druck kann natürlich auch aus der Umgebung kommen.
Ilse Bieniek beschrieb typische Verläufe von Suchterkrankungen. Das Problem sei nicht das Erkennen - das können auch die Suchtkranken selbst, wenn sie sich beobachten - sondern das Eingestehen und das konsequente Reagieren. "Das ist kein einfacher Schritt. Wer zu uns kommt, wird meistens geschoben von Angehörigen oder Arbeitgebern."
Es gibt ein gut ausgebautes Suchthilfesystem mit ambulanten und stationären Therapieformen, die ohne Probleme in Anspruch genommen werden können. Denn vor 50 Jahren wurde beispielsweise der Alkoholismus vom Gesetzgeber als Suchtkrankheit anerkannt, und Renten- und Krankenversicherungen bezahlen die Therapie.
Sie wies aber ausdrücklich darauf hin, dass es keine gesetzlich legitimierte Einweisung von Suchtkranken gibt: "Die müssen selber und freiwillig kommen." Aber immerhin: Ein Drittel schafft's, ein Drittel kommt immer wieder und ein Drittel schafft's nicht.
Das Publikum nutzte vor allem die Gelegenheit, die Expertin zu fragen, und zwar nicht nur nach dem Motto: "Ich habe da einen Freund..." Es war durchaus auch persönliche Betroffenheit und Nachdenklichkeit im Spiel. Vor allem natürlich die Frage, was man tun kann mit einem Drogenabhängigen Angehörigen, wie man sich verhalten soll - auch in eigentlich banalen Situationen. Ilse Bieniek: "Ich rate ab von alkoholfreiem Bier oder Sekt, weil da schnell die Erinnerung zurückkehrt an Zeiten, in denen die Welt noch in Ordnung war." Da steige die Rückfallgefahr erheblich. Es sei überhaupt ein Problem, dass man ständig genötigt wird, irgendwo mitzutrinken: "Da muss man schauen, möglichst schnell aus der Rechtfertigungsnummer herauszukommen. Richt- und Grenzwerte konnte Ilse Bieniek natürlich nicht nennen, weil die von zu vielen Faktoren abhängen: "Man muss sich klar machen, dass Alkohol ein Zellgift ist."
Diskutiert wurde auch über die schwierige Rolle der Angehörigen, denn in dem Moment, in dem sie sich an den Vertuschungen der Abhängigen beteiligen, um sie zu schützen, tragen sie zur Aufrechterhaltung der Sucht bei. "Die meisten kommen erst zu uns, wenn man ihnen eine deutliche Grenze setzt", sagte Ilse Bieniek. Das sei vor allem für die Partner eine schwierige Situation: "Es gehört viel Leidensfähigkeit dazu. Es ist nicht einfach, einen Menschen fallen zu lassen, um ihn zum Handeln zu zwingen."
Eine ebenso hochinteressante wie beklemmende Diskussion. Das eine oder andere Gute-Nacht-Bier wird an diesem Abend im Kühlschrank geblieben sein.