Hans-Peter Selmaier ist Chefarzt der Parkklinik Heiligenfeld. Seine Liste medizinischer Fachgebiete ist lang, darunter Psychosomatische Medizin, Psychotherapie und Psychoanalyse (jeweils mit der Fachkunde für Kinder- und Jugendliche). Selmaier ist außerdem Arzt für Innere Medizin, Sozialmedizin und Suchtmedizin, und er war als Psychoonkologe tätig. Mit ihm haben wir darüber gesprochen, wie man Resilienz - auch im neuen Jahr - fördern kann.
Wir leben in einer Phase, in der den Menschen sehr viel Widerstandsfähigkeit abverlangt wird. Stichwort: Unbezahlbare Heizrechnung. Oder die Sorge, dass der Krieg in der Ukraine irgendwann zu uns übergreifen könnte.
Hans-Peter Selmaier: Man könnte sagen, wir sind da etwas unvorbereitet und ungeübt. Viele von uns sind in einer recht belastungsarmen Zeit groß geworden. Krieg hat es zwar gegeben, aber der war woanders. Es gab also einen Sicherheitsabstand zum Bösen und Gefährlichen. Wir wissen, dass alte Traumata durch solche neuen Bedrohungen getriggert werden können. Da ist es egal, aus welchem Grund jemand traumatisiert ist. Wie bei einem Stein, der ins Wasser fällt und eine Welle auslöst, gibt es einen Auslöser, der dann an alten Schwachstellen rührt.
Krisen können aber umgekehrt Positives bewirken. Das wollen wir vielleicht noch nicht sehen, aber das kann kommen. Verbesserungen gehen oft über Krisen. Krisen stellen eine Gefahr und eine Chance dar.
Welche Probleme beobachten Sie bei Ihrer Arbeit als Therapeut in Heiligenfeld?
Oft überfordern sich die Leute. Sie versuchen, die Überforderung möglichst aufrechtzuerhalten, weil sie nach Anerkennung, Wertschätzung oder Zuwendung streben. Dinge also, die sie nicht im gewünschten Umfang erhalten haben.
Manche haben Angst, weil sie früher Ablehnung und Kritik erfahren haben. Sie versuchen sich dann, durch Leistungsstreben oder Perfektionismus davor zu schützen und wenigstens diesmal zu genügen. Das funktioniert natürlich nicht, weil es ein riesiger Kraftaufwand ist, der anderen Lebensbereichen Energie entzieht. Viele legen sich trotzdem ziemlich ins Zeug und betreiben dabei Raubbau an ihrer Gesundheit.
Dieses Lebensmuster muss man den Menschen verdeutlichen, weil es ihnen gar nicht mehr auffällt. Wenn die Menschen in der Klinik sind, sind sie schon an einem Punkt angelangt, wo dieses Muster nicht funktioniert hat, denn sonst hätten sie es fortgesetzt. Da ist also ein Bruch. Diesen Bruch können wir angehen, um nicht nur den Bruch selbst zu reparieren, sondern auch den Lebensstil nachhaltig zu beeinflussen.
Wie setzen Sie da konkret an?
Man sammelt bei uns in Heiligenfeld Erfahrungen und Erkenntnisse, die man bisher oft nicht kannte. Wir bieten Meditation, Yoga und Qigong an und fördern Resilienz durch Rituale. Wir haben Tage und Stunden der Stille in der Klinik. Da sind sehr viele spirituelle Elemente dabei, was für den einen oder anderen am Anfang ein bisschen befremdlich ist. Spiritualität spielt bei der Resilienzförderung eine bedeutende Rolle.
Außerdem geht es darum, den eigenen Wesenskern zu entdecken, sich manches bewusst zu machen, ehrlich zu sich zu sein und sich zu öffnen. Das ist wichtig. Es geht auch darum, gesundheitsschädliches Verhalten ausfindig zu machen und zu fragen, welche Rolle dieses Verhalten bisher im eigenen Leben gespielt hat und wie man es überflüssig machen kann.
Wozu führt diese Ruhe und Stille etwa bei der Meditation?
Stress ist ja nicht nur eine Belastung. Durch Arbeit und Einsatz kann man auch viele missliche Dinge verdrängen. Wenn man dann zur Ruhe und Stille kommt, lässt man notgedrungen mehr an sich heran. Das kann sich am Anfang nicht nur positiv anfühlen, weil ich damit in eine neue, mir vielleicht ungewohnt erscheinende Welt einsteige. Man kann sagen, dass in einer Klinik ein anderer Lebensstil entsteht. In Heiligenfeld erleben Patienten oft eine andere Welt als die Welt draußen; diese kann ich mehr oder weniger verinnerlichen und mir zu eigen machen.
Wie kann man das Gelernte später im Alltag zuhause umsetzen?
Indem man es beispielsweise im Alltag in bestimmten Ritualen fest verankert und es auch immer wieder bewusst einübt. Wenn ich das nicht mache, bleibt der alte Lebensstil oft unverändert und wird einfach fortgeführt, weil die alten Wege natürlich sehr ausgetreten sind. Hilfreich ist es überdies, mehr Gemeinschaftsgefühl und Verbundenheit zu entwickeln.
Wie wird man im neuen Jahr resilienter?
Zur Resilienz gehört es auch, Hilfe entgegenzunehmen, soziale Unterstützung zu erfahren und herauszufinden, was einem persönlich wichtig ist. Es geht auch darum, gesundheitsförderliche Seiten zu entdecken: Freude, Lust und Humor, damit an die Seite der reinen Pflichterfüllung noch etwas Anderes tritt und die Work-Life-Balance wieder etwas ausgeglichener wird. Mehr zum Leben hin.
Dann gibt es natürlich noch weitere Dinge, die sinnvoll sind: mehr Bewegung und eine ausgeglichene Ernährung. Das sollte man pflegen, anstatt in schädlichen Verpflichtungen und Gewohnheiten stecken zu bleiben und diese unüberprüft weiterzuführen.
Das Gespräch führte Charlotte Wittnebel-Schmitz.