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Hammelburg
Hammelburg: 1989 in der Kaserne 8000 DDR-Flüchtlinge betreut
Dieser Bilder vergisst Hauptmann a.D. Wolf-Dieter Bogner nie. Tag und Nacht zogen bei der Bundeswehr zwischen September und November 1989 erschöpfte DDR-Flüchtlinge ein.
Wolf-Dieter Bogner (81) erinnert sich beim Betrachten von Zeitungsausschnitten lebhaft an das Eintreffen von DDR-Flüchtlingen in der General-Heusinger-Kaserne.
Foto: Wolfgang Dünnebier | Wolf-Dieter Bogner (81) erinnert sich beim Betrachten von Zeitungsausschnitten lebhaft an das Eintreffen von DDR-Flüchtlingen in der General-Heusinger-Kaserne.
Wolfgang Dünnebier
 |  aktualisiert: 01.12.2019 02:10 Uhr

Dieser Bilder vergisst Hauptmann a.D. Wolf-Dieter Bogner nie. Tag und Nacht zogen bei der Bundeswehr zwischen September und November 1989 erschöpfte DDR-Flüchtlinge ein.

Frage: Als Offizier für Standortangelegenheiten koodinierten Sie in den Wochen vor dem Mauerfall im September und Oktober die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen in der General-Heusinger-Kaserne maßgeblich mit. Nach der Öffnung der ungarischen Grenze kamen Menschen von dort, später unter anderem auch mit drei Sonderzügen aus der Prager Botschaft. Das klingt herausfordernd...       

Wolf Dieter Bogner: Wir wussten, dass die Leute, wenn Sie kommen, nichts haben, außer vielleicht einen Koffer voller Sachen. Die waren ja zuvor in der DDR Richtung Urlaub aufgebrochen, um von dort zu fliehen. In der Prager Botschaft konnten die ja wegen des Gedränges dort oftmals auch nicht mehr duschen. Ich schätze mal, dass von den 8000 Eintreffenden 6500 fast nichts dabei hatten.     

Und nach der Ankunft gab es freudige Szenen?

Bogner: Die Leute kamen in ihren Autos oder Bussen an, total übernächtigt, ziemlich fertig. Da war erst mal wichtig: duschen, schlafen, essen. Unsere Küche hat tolle Sachen gemacht. In drei Schichten haben je bis zu 300 Menschen Essen bekommen. Manchmal waren ja gleichzeitig 1000 Leute untergebracht.

Der Zustrom von Flüchtlingen dauerte mehrere Wochen an.
Foto: Manfred Schweidler | Der Zustrom von Flüchtlingen dauerte mehrere Wochen an.

Welches Bild hat sich Ihnen am meistens eingeprägt? 

Bogner: Die geduldig in Schlangen auf ihre Aufnahme wartenden Menschen. Da gab es keine Ungeduld und keine Schreierei.

Was hat Sie am meisten bewegt?

Bogner: Es kamen auch unterwegs getrennte Familien, die feierten bei uns in Hammelburg Wiedersehen. Es waren zum Beispiel Mütter mit Kindern. Der Vater war früher oder später unterwegs gewesen. Da gab es dann Freudentränen. Jeder Tag war voller Emotionen. Wir waren ein Team von 50 bis 80 Soldaten. Mal mehr, mal weniger, je nachdem, wie viele Flüchtlinge der Bundesgrenzschutz ankündigte. Wir begannen um zwei oder drei Uhr nachts mit der Arbeit. Eigentlich  war immer was, aber das war wurscht.

Für die Bundeswehr war es ein humanitärer Kraftakt....

Bogner: Schon bei Vorbesprechungen hatte sich herausgestellt, dass die Bundeswehr das gar nicht alleine schafft. Obwohl alle samt den Mitarbeitern des Sanitätsbereichs und den Zivilbeschäftigten  der Standortverwaltung keine Stunden zählten. Wichtig waren auch Hilfsorganisationen vom Roten Kreuz bis zur Caritas, aber auch die Verbindungen zum Bundesgrenzschutz, zur Regierung und dem Landratsamt. Die Post musste zusätzliche Verbindungen schaffen. Es war ja klar, das wir viele Apparate brauchen, weil die Leute nach ihrer Ankunft telefonieren wollten. Zur Verbindung mit dem Bundesgrenzschutz bekamen wir ein Faxgerät. Das war für uns völlig neu. Sonst hätten wir nicht gewusst, wer da wann zu uns kommt.

Was hat gefehlt? 

Bogner: Wir hatten eigentlich alles, was die Menschen für den Neustart brauchten. Auch Dank der Mithilfe durch die Bevölkerung. Die Solidarität nach Spendenaufrufen war riesig. Wir mussten bisweilen sogar dazu aufrufen, dass die Leute keine Kleider mehr anliefern, weil wir keine Lagerkapazitäten mehr frei hatten. Babykleidung, Kindernahrung, die Beschaffung wurde in einer großen Konferenzrunde abgestimmt. Das ging bis hin zu Möbelaktionen und Bereitstellung von Fernsehern in den Gemeinschaftszimmern. Das Informationsbedürfnis über die Entwicklung in der DDR war riesig.

 

 

Wolf-Dieter Bogner und der damalige Landrat Marko Dyga in einer der vorbereiteten Stuben.
Foto: Michael Czygan | Wolf-Dieter Bogner und der damalige Landrat Marko Dyga in einer der vorbereiteten Stuben.

Und der übrige militärische Betrieb?   

Bogner: Der lief normal weiter. Die Flüchtlingsunterkunft in der General-Heusinger-Kaserne mit 800 Betten war ja eigentlich das Lager für die übende Truppen. Diese Truppen wurden vorübergehend in beheizten Zelten auf dem Biwakplatz einquartiert.  

Wie kam es bei den Flüchtlingen an, dass sie in der Obhut der Bundeswehr landeten, dem Militär des von der SED-Propaganda beschimpften Klassenfeindes?

Bogner: Wir haben den Schlagbaum geöffnet, das Wachhaus unbesetzt gelassen und alle Sperrschilder für den militärischen Sicherheitsbereich entfernt. Den Begriff Lager haben wir ausdrücklich vermieden. Wir waren zunächst Regierungs- und dann Bundesaufnahmestelle.

Spürten Sie als Soldat Vorbehalte?

Bogner: Die Leute waren erst zurückhaltendend. Wir sind ja da in Uniform rumgelaufen. Die Leute kannten es von der Nationalen Volksarmee anscheinend nicht, dass man als Soldat vernünftig mit ihnen spricht. Zwei junge Männer kriegten sich fast nicht mehr darüber ein, dass die anderen Hammelburger Kasernen an den Wochenenden fast verwaist waren. Ihnen sei immer erzählt worden, dass die Bundeswehr mit ihren Verbündeten irgendwann wochenends die DDR angreife. Deswegen mussten viele dort Bereitschaft schieben. Ich vermute mal, die beiden waren NVA-Soldaten, die den Urlaub zur Flucht genutzt hatten.

Gab es bei der Bundeswehr Sicherheitsbedenken?

Bogner: Nicht hinsichtlich der Neuankömmlinge. Aber gegenüber manchen Gästen. Plötzlich tauchten große schwarze Limousinen auf. Mit Schweinfurter Kennzeichen. Leute, die Bücher verkaufen wollten. Enzyklopädien und Versicherungen. Irgendwann habe ich gesagt: Jetzt ist Schluss. Ich will wissen, wer sich auf dem Gelände aufhält. Deswegen habe ich keine Wache postiert, sondern einen Soldaten als Ansprechpartner, der die Leute gefragt hat, was sie wollen. Erst nach Rücksprache durften die durch.

Wie ging es mit den Ankömmlingen aus der DDR weiter? 

Bogner: Wichtig waren Wohnung und Arbeit. Das Angebot war gar nicht schlecht. Wir hatten auch das Einwohnermeldeamt, das Sozialamt und das Arbeitsamt vor Ort. Tafeln in den Fluren mit Stellenangeboten waren eigentlich immer voll. Manche tankten nach den Formalitäten voll und fuhren gleich zu Verwandten in der Republik weiter, andere brauchten ein paar Tage, bis sie vermittelt waren. Ich erinnere mich an einen Metzgermeister, der mit seiner Familie zurückkam, weil er es nicht verkraftete, statt bisher zwei bis drei Schweine in der Woche 200 bis 300 zu schlachten. Es gab auch Menschen, die lange brauchten, bis sie das Warenangebot in der Stadt verkrafteten.

Hatten Sie vorab keinen Bammel vor der Herausforderung?

Bogner: Vor meiner Aufgabe für die Standortangelegenheiten war ich in der Organiationsabteilung der damaligen Infanterieschule. Wir haben auch Großveranstaltungen gemanagt, wie die damaligen Bonnlandfeste mit tausenden Besuchern aus der ganzen Region. Deswegen hatte ich keine Probleme, mich in die neue Aufgabe hineinzuversetzen.  Wir waren ein Team. Ich bin ein Jahr später in den Ruhestand gegangen. Die Betreuung der Flüchtlinge  war die Krönung meiner Laufbahn.

Es lief also alles glatt?

Bogner: Natürlich gab es kleinere und größere Probleme. Wir hatten sie im Griff. Zum Beispiel die Schaffung einer Telefonverbindnung in die USA. Manche hatten dort Verwandte und wollten Lebenszeichen dorthin geben. Kontakt ging natürlich nicht über die acht Telefonzellen vor der Tür, da hatten wir eine eigene Freischaltung. Was nach dem Aufräumen blieb, war eine höhere vierstellige  Telefonrechnung offen. Die übernahm nach längeren Verhandlungen die damalige Wehrbereichsverwaltung.

Würden Sie im Nachhinein etwas anders machen?

Bogner: Die zurückliegenden 30 Jahre ist auch bei mir selbst schon viel in Vergessenheit geraten. Ich hätte selbst Tagebuch über die bewegenden Wochen in der Kaserne führen oder jemanden dafür beauftragen sollen. Es ist so viel dort passiert, das alles hätte man für die Nachwelt genauer  festhalten sollen.

 
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