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Bad Kissingen
Griff zur Flasche bleibt häufigste Sucht
Die Suchtberatung der Caritas stellt ihren Bericht für 2015 vor. Silvia Herrmann hat zum Jahreswechsel die Leitung übernommen.
Foto: Arno Burgi/ dpa       -  Foto: Arno Burgi/ dpa
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Markus Klein
 |  aktualisiert: 20.08.2022 01:30 Uhr
Eine 65 Jahre alte Ehefrau und Mutter aus Bad Kissingen spricht über ihren Weg in die Sucht: "Ich bin durch die Pflege meines dementen Mannes ständig überfordert und fühle mich alleingelassen. Damit ich den Tag überstehe, trinke ich Wein. Meine Tochter schimpft nur mit mir, mein Sohn lebt weit entfernt und hat höchstens gutgemeinte Ratschläge für mich übrig." Anna B.* (* Name von der Redaktion geändert) ist eine von über 300 Menschen in Bad Kissingen, die wegen ihrer Alkoholsucht im vergangenen Jahr Hilfe bei der Beratungsstelle der Caritas gesucht haben. Rund 500 Süchtige wurden beraten.


Viele sind einsam

Silvia Herrmann hat zum Jahreswechsel die Leitung der Suchtberatung übernommen. Seit 20 Jahren arbeitet sie dort. Anna B. konnte sie helfen. "Viele sind einsam und haben niemanden, mit dem sie reden können", sagt Herrmann. Deshalb seien neben Interventionen - klinische Entgiftungen - vor allem die Beratungsgespräche wichtig. "Zuhören, zur Seite stehen und nicht verurteilen ist der Schlüssel", erklärt Herrmann. Die Beratung ist kostenlos, die Mitarbeiter haben Schweigepflicht. "Das lockert", meint die Beraterin. So entwickelten sich aus den anfänglichen Gesprächen häufig längerfristige Kontakte: "Süchte begleiten Menschen oft ein ganzes Leben."

Einsamkeit, Überforderung, Angst und tragische Erlebnisse sind häufig Gründe, warum Menschen süchtig werden. Entgegen des Klischee-Bildes vom jugendlichen Drogenjunkie sind ein Viertel der Süchtigen Hausfrauen und Rentner. Dabei greift der Großteil nach wie vor zur Flasche: 62 Prozent der Ratsuchenden sind alkoholabhängig (66 Prozent im Jahr 2014, 67 Prozent 2013). Das liegt zum einen an der ständigen Verfügbarkeit der Droge, zum anderen an der gesellschaftlichen Akzeptanz. Während bei illegalen Drogen Angehörige und Freunde schnell skeptisch reagieren, werden Alkoholräusche meist lange toleriert. Bis das Problem erkannt wird, ist die Sucht oft über viele Jahre fortgeschritten. "Ein Heroinentzug geht teils einfacher, weil die Sucht früher erkannt wird", sagt sie. Daran habe sich nicht viel geändert, seit Herrmann vor 20 Jahren angefangen hat.


"Politox" und Mehrfachdiagnosen

"Neu ist der häufige Mischkonsum", berichtet Herrmann. "Viele machen Politox: Schnaps, Heroin, Speed, Legal Highs ... Da wundert es mich nicht, dass es immer mehr Psychosen gibt." Denn neben dem Trend zum Mischkonsum gibt es auch einen zur Mehrfachdiagnose: 18 Prozent der Ratsuchenden waren auch in psychiatrischer Behandlung. Das sind fünf Prozent mehr als im Vorjahr. "Ob zuerst die Depression oder das Suchtmittel kam, muss lange ausdifferenziert werden", erklärt Herrmann. Zudem erschwert fehlende Kommunikation die Diagnose: Ärzte verschreiben Antidepressiva und andere beruhigende Medikamente, wissen aber nichts von der Sucht.
"Wir haben medikamentenabhängige Frauen, die sich von fünf Ärzten ihre Pillen verschreiben lassen", erzählt Herrmann. Manche rutschen von der Depression in eine Abhängigkeit, andere sind wegen ihrer Sucht depressiv. "Das Problem ist, dass Mediziner oft nur an einer Problematik arbeiten und die Gesamtsituation nicht sehen", so Herrmann. Das kann zu den genannten Extremfällen führen, "aber auch häufige Stürze bei älteren Menschen können ein Indiz für Alkoholabhängigkeit sein", sagt die Beraterin.


Legal Highs

Neu sind Probleme mit Kräutermischungen, die im Internet bestellt werden können. Einige von Herrmanns Klienten gaben an, sogenannte "Legal Highs" zu rauchen. "Hauptsächlich, weil der Nachweis so schwierig ist", erklärt die Suchtberaterin. Denn viele haben Bewährungsauflagen. "Diese Mischungen sind sehr gefährlich, weil niemand weiß, was drin ist." Eine Klientin habe etwa erzählt, dass sie sich an die letzten zehn Stunden nicht erinnern kann. Klinikeinweisungen und Unfälle wegen der Legal Highs häufen sich in der Region. So stürzte erst vor einem Monat ein 36 Jahre alter Reiterswiesener vom Dach seines Hauses und verletzte sich schwer. Der Mann gab an, vor dem Sturz Legal Highs geraucht zu haben. Er könne sich an nichts erinnern und sei erst im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein gekommen. Deshalb Cannabis zu legalisieren, hält Herrmann für den falschen Weg: "Man würde damit beides legitimieren", meint sie.

Die Modedroge "Crystal Meth" (Methamphetamin), die derzeit besonders in Ober- und Mittelfranken für Probleme sorgt, ist laut Herrmann in Bad Kissingen kaum verbreitet. "Eine Heroinabhängige hat gesagt, sie lehne es ab, weil es der Haut so schadet", sagt Herrmann. Sie lächelt. "Es ist erstmal unverständlich, dass sich Süchtige so um ihr Aussehen sorgen." Doch selbst bei den härtesten Drogen wie Heroin stimme das Klischee vom verwahrlosten Süchtigen selten. "Mit einer gut geregelten Substitution können die ganz normal leben", sagt die Beraterin. Substitution, also die Verabreichung von Ersatzstoffen zur Linderung von Entzugserscheinungen, hält Herrmann für ein "tolles" Modell zur Behandlung von Heroinsüchtigen.

Im Landkreis Bad Kissingen gibt es davon vergleichsweise recht viele. Meist seien es Russlanddeutsche, die zu der Droge griffen. Einerseits liege das daran, dass sie in Kreisen verkehrten, wo die Drogen konsumiert werden, andererseits auch daran, dass sie teils auf Ablehnung seitens der Gesellschaft stoßen. Substitution könne helfen, aber es zeichnet sich ein Problem ab: "Es gibt im Landkreis nur zwei Ärzte, die das verschreiben", sagt Herrmann. Und diese seien kurz vor dem Ruhestand. "Der Nachwuchs fehlt", sagt Christian Fenn von der Kissinger Drogenhilfe (Kidro). Bei ihm können Süchtige die Substitutionsmittel abholen, müssen aber für das Rezept einmal pro Woche zum Arzt. Etwa zehn Menschen kommen täglich zu ihm. Zwei davon sind berufstätig und es werde schwierig, wenn sie künftig für das Rezept nach Schweinfurt fahren müssten. Laut Fenn gibt es die Nachwuchsprobleme einerseits, weil die rechtlichen Bestimmungen kompliziert sind und viel Arbeit erfordern. Andererseits sorgten sich die Ärzte um den Ruf ihrer Praxis: "Nicht jeder will diese Kunden bei sich haben", so Fenn. Versorgungsmängel stünden bevor, allerdings sieht er auch Hoffnungen: "Ärzte, Apotheken und Drogenhelfer werden alles daran setzen, dass die Substitution dem Beruf nicht im Weg stehen wird." Denn das wichtigste Ziel der Drogenhilfe sei es, das Leben der Süchtigen wieder in geregelte Bahnen zu führen.



Infos aus dem Suchtbericht 2015:


Anzahl Im Jahr 2015 suchten etwa 500 Menschen die Suchtberatung der Caritas in Bad Kissingen auf. Das sind rund 40 mehr als 2014 und 30 mehr als 2013. Insgesamt ist die Zahl über die vergangenen zehn Jahre recht stabil.

Verteilung Am häufigsten wurden Menschen wegen ihrer Alkoholsucht beraten (62 Prozent). Die zweithäufigste Sucht bei den Ratsuchenden sind Opioide (z.B. Heroin, 16 Prozent), es folgen Cannabis (7 Prozent) und Sedativa/ Stimulantien (beruhigende bzw. aufputschende Drogen, vor allem Tabletten mit dem Wirkstoff Benzodiazepan und von den Stimulantien Amphetamine, 5 Prozent). 6 Prozent der Ratsuchende waren Angehörige von Drogensüchtigen.

Zugang 41 Prozent meldeten sich selbst bei der Suchtberatung, 40 Prozent wurden über Angehörige vermittelt. 18 Prozent wurden von ihrem Arzt, Therapeuten oder dem Krankenhaus an die Stelle verwiesen, 10 Prozent wurden von öffentlichen Stellen zur Beratung verpflichtet (Mehrfachberatungen innerhalb eines Jahres sind möglich, deshalb ergeben sich mehr als 100 Prozent).

Verweildauer Rund 75 Prozent führen sechs oder mehr Gespräche mit der Stelle. Jeder Fünfte bleibt länger als ein Jahr in der Beratung. mak
 
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