Eine der frühesten Beethoven-Sonaten und dann 21 einzelne kleine Sätze - wenn man die auch nicht anders gearteten Zugaben dazurechnet, sogar 27 - das ist nicht jedermanns Sache. Das ist sicher für jemanden interessant, der aus diesen Sätzen bereits den einen oder anderen selbst gespielt hat. Aber das ist das Programm, mit dem Grigory Sokolov in dieser Saison rund um die Welt gereist ist: die Sonate C-dur op. 2/3 von Ludwig van Beethoven , dann dessen elf Bagatellen op. 119 und im zweiten Teil die Sechs Klavierstücke op. 118 und die Vier Klavierstücke op. 119 von Johannes Brahms . Größere Einheiten kommen da nicht vor.
Damit folgt Sokolov einem Trend, den er selbst gesetzt hat: Wer seine Programme der letzten Jahre anschaut, kann feststellen, dass er sich immer mehr auf das 19. Jahrhundert fokussiert und auf immer weniger Namen. Klar, Beethoven wurde 1770 geboren, aber die zwar etwas kleinere, aber produktiv wichtigere Hälfte seines Lebens verbrachte er im 19. Jahrhundert, das er ja auch erheblich geprägt hat. Früher hat er ja auch mal Bach gespielt oder Mozart oder Rameau oder Byrd oder diesen etwas rätselhaften armenischen Priester und Komponisten Komitas Vardapet. Da konnte er noch überraschen. Aber das 20. Jahrhundert - mit der Ausnahme Rachmaninow, der dem 19. Jahrhundert nicht ganz fern steht - und das 21. Jahrhundert sind ausgeblendet.
Es sind freilich auch nicht die Programme, die Sokolovs unerschütterlichen Ruhm begründen, sondern, und das zu Recht, seine grenzenfreie Virtuosität - kaum einer seiner Kollegen verspielt sich so selten wie er; kaum einer kann sich im Zugriff eine so große Risikobereitschaft leisten wie er. Er wird zu Recht gerühmt für seine Fähigkeit, die Architektur der Musik zu analysieren und darzustellen. Und er wird gerühmt für seinen Anschlag, der immer noch sehr differenziert ist, in der letzten Zeit aber etwas mehr in Richtung Härte geht. Das "dolce" hat sich abgeschwächt.
Distanz zum Publikum
Aber es fällt auch auf, dass kaum jemand, der Sokolov rühmt, von Ergriffenheit spricht. Er ist einer, der den Eindruck erweckt, nur für sich zu spielen, möglichst nichts von sich selber rauszulassen, niemanden ergreifen zu wollen, mit dem Publikum möglichst wenig zu tun haben zu wollen - auch das ein Virtuosenbild des 19. Jahrhunderts. Dass er nicht erkannt werden will, zeigt ja schon jedes Jahr seine distanzierende Inszenierung in der Dunkelkammer des Max-Littmann-Saals. Obwohl man in Beethovens Es-dur-Sonate, die wieder glänzend analysiert war, manchmal, vor allem an einigen humorvollen Stellen, den Eindruck hatte, dass Sokolov sich hier tatsächlich zeigen wollte. Aber er schien das auch gemerkt zu haben und ruderte wieder zurück. Indem er diese harmlose C-dur-Sonate etwas überdramatisierte und sich selbst damit zurückzog, gab er ihr ein (Über-) Gewicht, als wolle sie in der Reihe der fünf letzten Sonaten Beethovens ein Wörtchen mitreden.
Wobei er das mit der strukturellen Klarheit auch gerne mal ins Gegenteil verkehrt. Nicht, weil er an die Sonate sofort die elf Bagatellen anhängte, sondern weil er die in einem Rutsch durchspielte, weil er sie in einen engen Zusammenhang brachte, der eigentlich nicht gegeben ist, denn diese elf Sätze entstanden über einen Zeitraum von 27 Jahren und setzen nach jeder Fermate neu an. Das tat er allerdings auch, und da war es gravierender, bei den Klavierstücken von Johannes Brahms . Gut, es war Robert Schumann , der gerne hinter vier zusammenstehenden Sätzen eine verkappte Sonate witterte. Aber zehn ... Da hätte er schon deutlicher abgrenzen können. Denn einige der Sätze sind strukturell schon komplizierter und nicht immer leicht in ihren Grenzen zu erkennen.
Lieblingsbagatellen
Andererseits - das muss man auch sagen - waren die letzten drei der im Grunde recht harmlosen Bagatellen wunderbar gespielt. Denn da ließ Sokolov eine starke Farbigkeit zu und verriet auch ein bisschen von sich selbst - vielleicht, weil es seine Lieblingsbagatellen sind. Und in den Brahms-Stücken konnte man nachvollziehen, warum sie gerne als eine Musik des Rückblicks, der Lebensbilanz gesehen werden. Denn da öffnete Grigory Sokolov einige Fenster, durch die musikalische Reminiszenzen und Klänge hörbar wurden, die Brahms in seinem Werk sein Leben lang begleitet hatten. Er selbst hielt sich allerdings heraus. Die erwarteten sechs Zugaben waren in diesem Jahr das Impromptu As-dur D 935/2, "Les sauvages" aus der Ballettoper "Les indes galantes" von Jean Philippe Rameau, Frédéric Chopins Mazurka a-moll op. 68/2, ein weiterer Kurz-Brahms, das Intermezzo Es-dur op. 117/2, Sergej Rachmaninows Prélude gis-moll op. 32/12 und ein Walzer e-moll des Moskauer Diplomaten und Dramatikers Alexander Sergejewitsch Gribojedow, der 1829 bei der Erstürmung der russischen Botschaft in Teheran ermordet wurde.
Aber man lasse sich von diesen hermetischen Auftritten nicht täuschen. Wenn man Grigory Sokolov außerhalb der Konzerte, sozusagen bei Tageslicht, trifft, dann ist er ein verdammt netter und kommunikativer Typ, der mühelos und bereitwillig zwischen fünf Sprachen hin und her springt. Wirklich!