Die Nachricht geht am 17. März 2006 wie ein Lauffeuer durch Bad Kissingen: Siegfried G., Inhaber eines Modegeschäftes am Rande der Fußgängerzone, lag blutüberströmt in seinem Laden. Eine Kundin hatte ihn leblos aufgefunden. Am Tag darauf erliegt er seinen Verletzungen.
Die Kurstadt ist in Aufregung: Beamte der Bereitschaftspolizei Bad Kissingen, Würzburg und Schweinfurt durchkämmen jede Straße in der Innenstadt. Sie durchsuchen Papierkörbe, Container und Bauschutt nach Hinweisen. Geschäftsleute diskutieren, Schusswaffen zu besorgen, um sich gegen Überfälle wehren zu können. Giselher Wall, geschäftsführender Vorsitzender der Werbegemeinschaft "Pro Bad Kissingen", mahnt seine Kollegen zu Besonnenheit.
Die Polizei verfolgt 80 Spuren
Raubmord, Beziehungstat oder Tötung im Affekt? Diese schwierige Frage versucht eine 30-köpfige Sonderkommission der Kripo Schweinfurt unter Leitung von Hauptkommissar Wolfgang Förster zu klären. Die Beamten haben erste Spuren gesichert, darunter einen Teil eines Fingerabdrucks – aber das bleibt zunächst geheim. Polizeisprecher Heinz Henneberger dämpft die Erwartungen der Journalisten: Während der heißen Phase der Ermittlungen könne er keine Angaben zu den Erkenntnissen seiner Kollegen machen.
Bald gehen die Beamten der Soko 20 Hinweisen nach, verfolgen 80 Spuren. Vernehmungen im privaten und geschäftlichen Umfeld des Opfers werden auch über das Wochenende nicht ausgesetzt. Die Fernsehsendung Kripo Live im Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) zeigt den Fall nur fünf Tage später.
"Aktenzeichen XY" zeigt Interesse
Selbst Eduard Zimmermann, der Vater der ZDF-Sendung "Aktenzeichen XY ungelöst", greift ihn auf seiner Homepage www.e110.de auf. Auch die aktuelle "Aktenzeichen"-Redaktion verfolgt den Fall interessiert, will ihn aber zunächst nicht zeigen. "Wir sind gerne bereit, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Allerdings ist eine Voraussetzung dafür, dass die Polizei bereits alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hat", so das ZDF.
Am Tag des Mordes und danach hatten Gerüchte die Runde gemacht, Siegfried G. sei erstochen worden. Das trifft aber nicht zu, wie sich nun herausstellt. Schwere Kopfverletzungen, die der Täter seinem Opfer zufügte, hatten zu seinem Tod geführt.
Ob im Laden etwas gestohlen oder nach Geld gesucht wurde, will die Polizei zunächst nicht verraten. "Bei Details handelt es sich um Wissen, das der Täter hat. Es ist für uns also ganz wichtig, das nicht an die Öffentlichkeit zu geben, um die Vernehmungen nicht wertlos zu machen", so Polizeisprecher Henneberger.
Tatverdächtiger festgenommen
Die Polizei bittet um die Mithilfe der Bevölkerung – und das trägt schnell Früchte. Eine Woche nach dem Mord präsentiert die Polizei einen Tatverdächtigen: Ein 35-jähriger Oberfranke wird in seiner Wohnung in Rödental (Lkr. Coburg) festgenommen. Ein Ermittlungsrichter erlässt Haftbefehl wegen Mordes.
Er habe zumindest eine Beteiligung an der Tat bereits zugegeben, erklärt Uwe Hückmann von der Pressestelle des Polizei: „Akribische Tatortarbeit hat sich wieder einmal ausgezahlt“, sagt er. „Die Schweinfurter Kripo konnte in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Landeskriminalamt einen schwachen, nur teilweise vorhandenen Fingerabdruck sichern und auswerten.“ Die Journalisten schlussfolgern, dass es sich bei dem 35-Jährigen um einen polizeilich nicht Unbekannten handelt. Der Polizeisprecher nutzt die Gelegenheit, um darauf aufmerksam zu machen, dass die Polizei noch nach zwei Zeuginnen sucht: „Die eine soll zur Tatzeit vor dem Geschäft geparkt und die andere einen blutüberströmten Mann gesehen haben“.
Zufalls-Tatort: Mörder ist ziellos umhergefahren
Dies und andere Ermittlungen runden schnell das Bild von der Tat ab: Wegen der "unglaublichen Brutalität" der Tat werde wohl eine psychiatrische Untersuchung notwendig sein, erklärt Leitender Oberstaatsanwalt Rainer Vogt, als er die Anklageerhebung verkündet. Der bei seiner Festnahme 35 Jahre alte Mann aus Rödental habe offenbar „massive finanziellen Sorgen“ gehabt. Er sei am Tag der Tat ziellos umhergefahren und zufällig in Bad Kissingen gelandet, berichtet die Polizei. Sein späteres Opfer, den 65-jährigen Siegfried G. habe er zuvor nicht gekannt.
Das Tatwerkzeug ist eine etwa 60 Zentimeter lange Kleiderstange. Damit wird G. im Streit brutal niedergeschlagen. Mit dem Tatwerkzeug seien dem Opfer, als es bereits am Boden lag, noch weitere schwerste Kopfverletzungen zugefügt worden, erklären die Ermittler.
Der schwache Fingerabdruck am Tatort ist der entscheidende Hinweis für die Soko "Klamotte". Ihn hatten Spezialisten des Landeskriminalamtes dem Tatverdächtigen zweifelsfrei zuordnen können. Nun wird bekannt: Dem vorbestraften Mann waren zuvor wegen einer Urkundenfälschung von Beamten der Polizeiinspektion Neustadt bei Coburg Fingerabdrücke abgenommen worden. Das sei letztlich der Grundstein dafür gewesen, dass der Tatverdächtige schnell festgenommen werden konnte, so die Polizei weiter.
Hoffnungslose Lage führte zu Mord
Der gelernte Bäcker gesteht im Prozess, G. am 15. März 2006 in dessen Boutique mit der Kleiderstange erschlagen zu haben. Motiv: Die durch seine Spielsucht hoffnungslos gewordene finanzielle Lage. Vom ursprünglich angeklagten Mord aus Habgier rückt die Staatsanwaltschaft im Lauf des Prozesses ab. Zunächst habe er in der Boutique (die zum Besuch des Spielcasinos nötige) Kleidung und Bargeld rauben wollen, so die Anklägerin. Erst als er kein Geld in der Kasse gefunden habe, sei seine Bereicherungsabsicht in Wut und Rachegelüste umgeschlagen.
Dieses Motivbündel wertet die Kammer als niedrige Beweggründe. Der Verteidiger vertritt die Ansicht, es habe sich um eine "relativ spontane Verzweiflungstat" gehandelt. Sein Mandant habe sich aus Wut über den gescheiterten Raub in einen hochgradigen Affektzustand hineingesteigert. Ob er, als er auf sein Opfer einschlug, sein Tun noch habe steuern können, sei zweifelhaft.
Das Gericht geht davon aus, der vor Wut tobende 36-Jährige habe seinem Opfer eine "Abreibung verpassen" wollen, die tödlich ausging. Aus der ungeheuren Wucht seiner Schläge sei ersichtlich, dass er zumindest mit dem Tod des Opfers gerechnet habe. Und zwar schon beim ersten Schlag, den er G. im hinteren Teil des Geschäftes versetzte, wohin sich dieser nach der ersten Attacke geflüchtet hatte. Das Opfer habe "nichts, aber auch gar nichts" zu der Tat beigetragen, so Vorsitzender Richter Norbert Baumann.
Urteil lautet auf lebenslänglich
Nur mit Mühe verneint die Kammer die besondere Schwere der Schuld. Wird diese festgestellt, kann der Täter nicht nach 15 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen werden. Das Opfer habe die fürchterlichen Schläge weitgehend noch mitbekommen, so die Kammer. Nur die Ausnahmesituation, in der sich der Täter befunden habe, hätte das Gericht bewogen, die besondere Schwere der Schuld zu verneinen.
Der Bundesgerichtshof bestätigt später das Urteil des Schweinfurter Schwurgerichts in diesem Bad Kissinger Mordfall. Der Täter muss lebenslang einsitzen.
Bewegende Trauerfeier in Bad Kissingen
Etwa 300 Kissinger nehmen in einer bewegenden Trauerfeier Abschied von Siegfried G. Trauerrednerin Dagmar Madrenas erinnert an einen geselligen, freundlichen Menschen, der Zeit seines Lebens überall beliebt, sehr aktiv und weit gereist war. Dass ihn Freunde und Bekannte so plötzlich durch ein Verbrechen verloren hätten, sei besonders schmerzlich. Der Vorsitzende des Kegelklubs San Remo beschrieb "den Siggi", der 27 Jahre Mitglied gewesen sei, als einen guten Freund, den jeder mochte. "Wir werden sein Lachen vermissen". Was passiert sei, "gehört zu den schlimmsten Erfahrungen meines Lebens", sagte Ralf Ludewig, Kreisvorsitzender des Einzelhandelsverbandes, bei dem sich auch G. engagiert hatte. "Niemand hat es verdient, so zu sterben. Schon gar nicht der Siggi."