
Unternehmerische Innovationen haben meist einen bescheidenen Ursprung: Sie starten in Garagen (Apple und Microsoft), Kinderzimmern (Facebook) oder in „Heikes Floristiklädchen“ am Hammelburger Viehmarkt.
Heike Schneider hatte das Geschäft 1989 gegründet. Zehn Jahre später zog das Floristiklädchen am Viehmarkt in eine andere Immobilie mit doppelt so großer Verkaufsfläche um und firmierte fortan unter dem Label „Heikes Blumenladen“.
Unsere Bilderstrecke zeigt weitere Außen- und Innenansichten der "Gefässerie"
Ausgerechnet ein gestandener Elektromeister sollte die Ausrichtung des Hammelburger Blumengeschäfts entscheidend verändern. Achim Eilingsfeld und die Floristin lernten sich erst kennen, dann lieben und schlossen schließlich privat und beruflich den Bund für Leben.
Heute hat ihr gemeinsamer Betrieb sieben weitere Mitarbeiter und stemmt in ganz Deutschland und Österreich große Projekte zur Begrünung von Innenwänden und Fassaden.
Neubau in Fuchsstadt
In dem Blumengeschäft am Hammelburger Viehmarkt reichte der Platz für die Bearbeitung der zahlreichen Begrünungsaufträge schon lange nicht mehr aus. Ende April des vergangenen Jahres war deshalb an der Neumühle 4a in Fuchsstadt Spatenstich für den Neubau. Seit Februar arbeiten die „Wandbegrüner“, wie sie sich selbst gerne bezeichnen, schon in einem Meer von Blumen, Pflanzen und Moosen.
Aber was macht ein Elektromeister in einem Blumengeschäft? Eilingsfeld lacht: „Das klingt ungewöhnlich, ist aber für unsere Großaufträge zur Begrünung von Fassaden sehr wichtig.“ Denn Pflanzen und ein grüner Daumen allein reichen nicht aus, um hunderte Quadratmeter eines Gebäudes in eine außergewöhnliche und klimafreundliche Augenweide zu verwandeln.
In Deutschland einmalig
Dahinter stehen komplizierte Technik und ständige Entwicklungsarbeit. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Der neue Firmensitz in Fuchsstadt ist Deutschlands einziges Haus, das komplett mit Pflanzen verkleidet ist – alle vier Wände, einschließlich des Flachdachs. Nur die Eingangstür und die Fenster wurden ausgespart.
Für die Bewässerung, Düngung sowie die Überwachung von Temperatur und anderen wichtigen Parametern mittels Sensoren hat Eilingsfeld eine komplizierte Steueranlage entwickelt und eingebaut.

Das heutzutage arg strapazierte Schlagwort „Nachhaltigkeit“ verwendet Eilingsfeld nicht gerne, sagt er. Und doch ist das Gebäude in Fuchsstadt ein Musterbeispiel für innovatives und umweltfreundliches Bauen, das in Deutschland einzigartig ist.
Das Flachdach wurde komplett mit Kassetten verkleidet, in denen auf einem Substrat aus Ton Moose und ausgewählte Bodendecker wachsen. Diese Kassetten sind so konstruiert, dass sie Regenwasser sammeln und bei Bedarf wieder an die Pflanzen abgeben. Eine enorme Wasserersparnis, denn ein Quadratmeter dieser Dachbegrünung kann etwa 20 Liter kostbares Nass speichern.

Schwierige Nordseite
Dass alle vier Fassaden des Firmensitzes mit einer Gesamtfläche von 178 Quadratmetern begrünt wurden, ist für die Branche ein Novum. Denn die Ausrichtung in alle vier Himmelsrichtungen gilt als äußerst schwierig, weil die Pflanzen den verschiedensten Witterungseinflüssen ausgesetzt sind.
„Süden und Westen sind sich ähnlich und kein Problem“, sagt der 52-Jährige. Für die sonnenarme Nordseite haben er und seine Mitarbeiter statt blühender Gewächse viel Grünpflanzen und Farne verwendet.

Paradies für Insekten
Der Elektromeister gerät fast ins Schwärmen, wenn er zeigt, was alles an den Außenwänden der „Gefässerie“ wächst und prächtig gedeiht: Glockenblumen, Schafgarbe, wilder Wein, Erdbeeren, Efeu, Farne und vieles mehr – die Liste ist lang und das Ergebnis herrlich anzuschauen.
Für Bienen und viele andere Insekten sind die begrünten Wände ein Paradies. Mit sogenannten Insektenscannern prüft Eilingsfeld regelmäßig, welche Arten das Gebäude besuchen und wie sich ihr Bestand entwickelt.

Projekt der TU Bielefeld
Der neue Firmensitz in Fuchsstadt ist bereits Objekt für wissenschaftliche Untersuchungen. Die Technische Universität Bielefeld will in Zusammenarbeit mit der „Gefässerie“ herausfinden, wie sich die Pflanzenwände im Innen- und Außenbereich auf das Raumklima und den Energieverbrauch auswirken.
Diese Forschungsprojekte sind auch wichtig, weil es zurzeit laut Eilingsfeld in Deutschland keine normierten Prüfverfahren für Wandbegrünungen gebe. So wird das Verfahren der Fuchsstädter baurechtlich nicht als Isolierung anerkannt und deshalb nicht oder nur marginal gefördert.

Kühle Räume ohne Klimaanlage
Dabei lässt sich der Nutzen in der Praxis sehr leicht feststellen: Für den begrünten Firmensitz konnte auf eine Klimaanlage komplett verzichtet werden. Trotzdem ist es drinnen an heißen Tagen etliche Grade kühler als draußen.
Zudem produzieren die vielen bepflanzten Gefäße und die meterhohen Wandbegrünungen im Innenbereich viel Sauerstoff und sorgen für eine gesunde Luftfeuchtigkeit von mindestens 50 Prozent. Und es ist angenehm still, denn die Pflanzen absorbieren Geräusche und fungieren so zusätzlich als kostenlose akustische Wandverkleidung.

Pflanzen aus Holland
Aber wie funktioniert denn nun so eine Wandbegrünung und wie lange dauert die Aktion? "Wir rechnen für größere Projekte etwa vier Wochen Vorlauf für Konzeption und Planung", sagt Eilingsfeld. Stimmt der Kunde zu, werden in Holland die benötigten Pflanzen bestellt und dort drei Monate aufgezogen - vorkultiviert, wie der Fachmann sagt.
Das Verkleiden der Wände oder Fassaden geschieht dann recht zügig innerhalb von zwei bis drei Arbeitstagen. Zunächst wird eine Art Gitter aus Edelstahlschienen angebracht. Daran werden Kassetten aus recyceltem Kunststoff befestigt, die mit Substrat und Pflanzen befüllt sind.
Zu Beginn sind die Flächen zu etwa 70 Prozent begrünt. Die Pflanzen wachsen dann vor Ort weiter und bedecken schließlich die so gestalteten Bereiche komplett.
Projekte für Banken und Hotels
Ganz billig ist diese Art der Fassadenverkleidung nicht - ein Quadratmeter kann bis zu 1000 Euro kosten. Wohl ein Grund dafür, dass sich vor allem größere Firmen, Hotels und Banken den Service der Fuchsstädter "Wandbegrüner" leisten. Aktuell arbeiten Achim Eilingsfeld und sein Team an der Fassade des sogenannten "Four", einem Komplex von vier Gebäuden (Höhe 105 bis zu 233 Meter) in Frankfurt am Main.

Pflege zweimal pro Jahr
Viel Zeit müssen Hausbesitzer in die Pflege ihrer grünen Wände nicht aufwenden. Bewässerung und Düngung erledigt die eingebaute Steuereinheit automatisch. Die meisten gewerblichen Auftraggeber schließen mit der "Gefässerie" einen Servicevertrag ab. Zweimal pro Jahr - meist im Frühjahr und Herbst - rückt ein Team aus Fuchsstadt an und sorgt dafür, dass die Fassaden aufs richtige Maß gestutzt werden.
Biologische Schädlingsbekämpfung
Kaputte Pflanzen müssen sie nur selten ersetzen. "Eigentlich hält die Begrünung mehrere Jahrzehnte", versichert der gelernte Elektromeister. Aber die herrliche Wandbegrünung kann auch von Schädlingen befallen werden - zum Beispiel dem gefürchteten Dickmaulrüssler. Dann versuchen Mitarbeiter der "Gefässerie", die Larven oder ausgewachsenen Käfer möglichst umweltschonend zu bekämpfen. So werden etwa natürliche Feinde des Dickmaulrüsslers in die grüne Fassade eingesetzt.
Interessierte willkommen
Von Anfang an haben die "Wandbegrüner" das neue Gebäude in der Neumühle 4a so konzipiert, dass Besuchern ein realistisches Bild von ihren Produkten gezeigt wird: "Es sollte kein funktionsloser reiner Showroom entstehen. Die Menschen sollen sehen, dass in diesem Gebäude gearbeitet wird", sagt Achim Eilingsfeld.
Wer die grünen Wände live anschauen will, kann nach telefonischer Voranmeldung unter 09732/6337 in Fuchsstadt vorbeikommen. Weiter Informationen gibt es auch auf der Homepage der Firma unter gefaesserie.de