
Ein eisiger Wind fegt über die Hochfläche des Truppenübungsplatzes Wildflecken und verfängt sich zwischen den kahlen Ästen der Eschen, die den alten Friedhof von Reußendorf umgeben. Denise Ullrich kniet vor einem verwitterten Grabstein , die Finger rot von der Kälte, und wischt mit einem Schwamm über die moosbedeckte Oberfläche.
„Das Alter darf man diesen Steinen ansehen“, sagt sie leise, während sie Schicht um Schicht den Stein vom Schmutz befreit.
Für sie ist es mehr als Arbeit – es ist ein Beitrag, die Geschichte dieses Ortes lebendig zu halten. „Es ist beeindruckend, wie viel Mühe die Menschen früher in diese Denkmäler gesteckt haben“, fügt sie hinzu.
Nicht weit entfernt arbeitet Klaus Schuhmann, der stellvertretende Vorsitzende der Reservistenkameradschaft Wildflecken . Mit einem Spachtel löst er vorsichtig Flechten von einem anderen Grabstein . Zwischen den Helfern herrscht eine fast andächtige Stille – nur das Kratzen der Spachtel und das Rauschen des Windes sind zu hören.
Ein Vermächtnis, das nicht vergessen werden darf
Die Initiative für die Arbeiten geht auf Thomas Helfrich zurück, einen Mann, der nie vergessen hat, woher er stammt. Helfrich wurde in Reußendorf geboren, kurz bevor das Dorf für den Bau des Truppenübungsplatzes abgesiedelt wurde. Die Bewohner mussten ihre Häuser, Höfe und Nachbarn hinter sich lassen – und auch die Toten auf den Friedhöfen zurücklassen.
„Es ist mir Auftrag und Vermächtnis, die Erinnerung wach zu halten und den Friedhof würdig zu erhalten“, sagt Helfrich. „Die Schriften sollen wieder erkennbar sein.“
Doch für Helfrich ist es nicht nur eine persönliche Aufgabe. Er sorgt sich um die Zukunft: „Wer wird nach meiner Generation noch da sein, um sich um diesen Ort zu kümmern?“ Mit seiner Initiative möchte er nicht nur die Grabsteine bewahren, sondern auch das Andenken an die Geschichte von Reußendorf und seiner Menschen lebendig halten.
Der Friedhof als stummer Zeuge der Geschichte
Der Friedhof ist mehr als ein Ort der Ruhe. Er erzählt von den Schicksalen der Menschen, die hier einst lebten. Ein Grabstein erinnert an Daniel Schmitt, den letzten „königlich-bayerischen Wiesenaufseher“, der hier mit seiner Frau Barbara die letzte Ruhe fand.
Ein anderer Stein trägt den Namen Karl Wenzel, der 1946 auf der Straße zwischen Maria Ehrenberg und Altglashütten überfallen und erschossen wurde. Und dann gibt es moderne Grabsteine ehemaliger Reußendorfer, die nach ihrem Tod zurückgebracht wurden, um Teil dieses besonderen Ortes zu bleiben.
Doch die Zeit hat ihre Spuren hinterlassen. Moose und Flechten bedecken viele der Steine, und die Inschriften sind kaum noch lesbar. „Der Zahn der Zeit hat an den Grabdenkmälern genagt“, erklärt Helfrich. Ohne Pflege drohen die Namen auf den Grabmälern in Vergessenheit zu geraten.
Adolf Kreuzpaintner ergriff 1979 erstmals die Initiative
Erst Jahrzehnte nach der Absiedlung, als die amerikanischen Kommandanten Volkswandertage auf dem Truppenübungsplatz genehmigten, konnten ehemalige Bewohner ihre Friedhöfe wieder besuchen. Doch der Anblick war ernüchternd: Brennnesseln überwucherten die Grabsteine , und viele Inschriften waren nicht mehr lesbar.
Es war Adolf Kreuzpaintner, der ehemalige Vorsitzende der Reservistenkameradschaft, der 1979 die Initiative ergriff, um den Friedhof von Reußendorf in einen würdigen Zustand zu versetzen. Die Gräber wurden eingeebnet, und der Friedhof in eine Parkanlage umgestaltet.
In den folgenden Jahren wurden Büsche, Hecken und Stauden gepflanzt, was jedoch zu neuen Problemen führte: Die Beschattung der Grabsteine begünstigte die Bildung von Moosen und Flechten, die die Steine beschädigten, und der Bewuchs erschwerte die Rasenpflege.
Schließlich entfernte die Reservistenkameradschaft in jüngster Zeit den Bewuchs und stellte den Zustand von 1979 wieder her, indem sie auch die umgebende Hecke zurückschnitt.
Handarbeit gegen die Vergänglichkeit
Die Restaurierung der Grabsteine ist mühsam und verlangt Geduld. Zunächst werden Moose und Schmutz mit Spachteln entfernt, danach wird ein Spezialreiniger aufgetragen und die Steine mit Schwämmen und Pinseln gereinigt.

Doch die größte Herausforderung sind die Algen, die sich über Jahrzehnte festgesetzt haben. Während Rotalgen relativ einfach zu entfernen sind, lassen sich Schwarzalgen kaum lösen.

„Man kann die Grabsteine nicht in einen neuen Zustand versetzen “, meint Denise Ullrich. „Das Alter gehört dazu.“
Ein besonders beschädigter Stein musste sogar komplett neu ausgerichtet werden. Mit einem Kran wurde er gesichert, ein neues Fundament gesetzt und der Stein schließlich wieder in seine ursprüngliche Position gebracht.

Für den Familienbetrieb Ullrich Naturstein Design aus Altengronau, der auf die Restaurierung alter Grabmäler spezialisiert ist, war das eine lösbare Aufgabe – doch der Aufwand zeigt, wie viel Hingabe in diesem Projekt steckt.
Finanzierung aus eigener Tasche
Die Arbeiten sind nicht nur körperlich anstrengend, sondern auch finanziell eine Herausforderung. Ein Antrag auf Förderung durch die Brückenauer Rhönallianz wurde abgelehnt. Helfrich nahm Kontakt mit Bürgermeister Gerd Kleinhenz auf, und es wurde beschlossen, Spendengelder in Höhe von 3700 Euro, die ursprünglich für die Chronik von Reußendorf gesammelt wurden, für die Restaurierung zu verwenden.
Doch bei Gesamtkosten von 6200 Euro bleibt eine Finanzierungslücke von 2500 Euro.
„Wir hoffen auf weitere Spenden und vielleicht einen Zuschuss vom Markt Wildflecken , dem Rechtsnachfolger der ehemaligen Gemeinde Reußendorf“, sagt Helfrich. Gleichzeitig macht er deutlich, dass es nicht allein um Geld geht: „Es geht darum, ein Stück Heimat und Geschichte zu bewahren.“
Ein Ort der Erinnerung
Am Ostersonntag, Pfingstsonntag und Allerheiligen öffnen sich die Tore des Friedhofs für Besucher. Helfrich hofft, dass die Menschen nicht nur die restaurierten Grabsteine bewundern, sondern auch die Bedeutung dieses Ortes verstehen – und die bereitgestellten Spendenboxen nicht übersehen werden.
Die Zufahrt mit dem Privat-Pkw in den Truppenübungsplatz ist über das Osttor bei Oberweißenbrunn und über das Westtor bei Kothen, jeweils in der Zeit zwischen 12 und 16 Uhr, möglich. Besucht werden können die Friedhöfe in Reußendorf und Altglashütten.
