Das Coronavirus hat in Frankreich - Stand Freitag, 27. März 2020 - rund 1700 Menschen getötet. Ein Hotspot ist das Elsass mit seiner Hauptstadt Straßburg, direkt an der deutsch-französischen Grenze. Dort - so heißt es in vielen Medienberichten - würden mittlerweile über 80 Jahre alte Patienten nicht mehr beatmet, um jüngeren Patienten eine Überlebenschance an den Beatmungsgeräten zu geben. Aus dem nahen Metz wurden am Wochenende Patienten in kritischem Zustand nach Deutschland in Kliniken geflogen, weil die Kapazitäten in Frankreich aufgebraucht sind.
Mitten in Straßburg lebt derzeit Elisa Keul aus Gauaschach, einem Stadtteil aus Hammelburg. Wobei leben relativ ist: Sie arbeitet, sie ernährt sich, sie ist in strenger Quarantäne. Die starken Einschränkungen hat Präsident Emmanuel Macron vor knapp zwei Wochen eingeführt und vor einigen Tagen noch einmal verschärft. Ein Telefonat mit einer, die nur noch eine Stunde am Tag nach draußen darf:
Saale-Zeitung: Frau Keul, wenn Sie aus dem Fenster blicken, was sehen Sie?
Ich wohne an einem zentralen Platz, der normalerweise bevölkert ist. Es ist unwirklich, aber er ist komplett leer. Wir haben eine absolute Ausgangssperre. Wir dürfen nur hinaus, wenn wir ein offizielles Papier dafür besitzen.
Wie kommt man an das?
Es gibt mehrere Versionen, man kann es auf der Regierungsseite herunterladen, es wird von Tag zu Tag restriktiver und detaillierter.
Was dürfen Sie damit?
Es regelt, dass ich nur noch einmal für maximal eine Stunde am Tag nach draußen darf. Und dann darf ich mich nur in einem Radius von einem Kilometer bewegen, das allerdings entweder alleine oder mit nur einem Familien- oder Haushaltsmitglied. Das muss ich alles ausfüllen, dazu Datum, Uhrzeit, Ort eintragen.
Wie gehen Sie einkaufen?
Ich habe das große Glück, dass ich über einem Supermarkt wohne. Übrigens: Nudeln und Klopapier hat der immer. Was aber ständig fehlt, sind Eier und Tomatensoße, obwohl da immer nachgeliefert wird.
Wer kontrolliert denn die Ausgangssperre?
Vom Ordnungsamt über die Polizei bis hin zum Militär. Überall sind Kontrollen. Südlich von Straßburg, bei Mulhouse, wurde jetzt ein Militärkrankenhaus mit Zelten hochgezogen, um dort Erkrankte zu versorgen. Und der Präsident ist oft im Fernsehen mit Reden an die Nation, dass die Verbote eingehalten werden müssen - und das ziemlich pathetisch
Was macht man bitteschön in einem Kilometer-Radius?
Ich mache es so, dass ich zweimal pro Woche jogge. Aber das ist nicht unbedingt entspannend. Denn ich treffe ja doch noch Menschen und auch ich habe Sorge, dass ich denen zu nahe komme. Ich schau, dass ich so schnell wie möglich nach Hause komme. Die Treppen in die fünfte Etage sind momentan mein Sport.
Was genau machen Sie eigentlich so fern der Heimat?
Einen zweijährigen Doppelmaster. Der beinhaltet ein Praktikum bei einem Büromöbelhersteller. Und es ist kurios: Ich bin die einzige aus meinem Studiengang, die ihr Praktikum fortsetzen kann, da ich im Homeoffice arbeiten kann. Die meisten anderen, das sind rund 52 000 Studierende in Straßburg, mussten ihre Arbeiten abbrechen.
Wie geht es Ihnen in der Isolation?
Es macht einsam, meine Freunde fehlen, meine Familie. Ich wohne normalerweise in einer WG. Der Belgier, der für den belgischen Botschafter arbeitet, musste einen Tag vor der Ausgangssperre das Land verlassen. Und meine Mitbewohnerin ist arbeitslos, sie kann die Miete nicht mehr zahlen und "flüchtete" zu ihrem Freund. Das Gute ist: Mein Freund aus Paris ist zu mir gekommen, denn auch er kann von zuhause aus arbeiten. So haben wir die leeren Zimmer zu Büros umgewandelt. Es ist schön, dass ich nicht alleine bin.
Haben Sie einen Balkon?
Ja, Gott sei Dank. Mit Blick Richtung Heimat, auf den Schwarzwald.
Gibt es in Ihrem Umfeld viele Infizierte?
Ich weiß, dass viele im Unternehmen erkrankt sind, auch wenn natürlich über die Diagnose geschwiegen wird. Und ich sehe hier regelmäßig Krankenwagen und Sanitäter im Vollschutz, wie sie Menschen in der Nachbarschaft und auch bei mir im Haus behandeln. Was ich jetzt beobachten kann: Oft steht der Krankenwagen mehrere Stunden vor dem Haus, der Patient wird aber nicht mitgenommen. Ich vermute, dass er sich alleine zuhause behandeln muss, da die Krankenhausbetten belegt sind. Es wurden bereits über Schnellzüge Patienten in andere Städte gebracht. Das empfinde ich als ziemlich schräg: Das läuft über den Bahnhof, von dem aus ich sonst nach Paris fahre. Jetzt wird er zum "Umschlagplatz" für Infizierte.
Wie ist die Stimmung in Straßburg?
Wie in Deutschland ist die Mehrheit vernünftig, hier gehen aber sehr viele nur noch mit Masken aus dem Haus. Die Menschen haben richtig Angst. Was aber sehr schön ist: Ähnlich wie in Italien "treffen" sich jeden Abend um 20 Uhr alle auf ihren Balkonen und an ihren Fenstern und dann wird es richtig laut. Es wird den Ärzten und Pflegern Beifall geklatscht, laut Musik aufgedreht und getanzt. Nach ca. 10 Minuten ist dann alles wieder still.
Und Sie?
Ich bin zuversichtlich, aber diese Angst kenne ich auch. Tagsüber bin ich durch die Arbeit und die Struktur, die die Arbeit vorgibt, abgelenkt. Aber abends, wenn man dann mal Kopfweh hat oder hüstelt, da jagt der Puls für ein paar Minuten doch nach oben. Viele meiner Nachbarn haben sich angesteckt, da überlege ich jede Türklinke, die ich angefasst habe. Dann sage ich mir wieder: Ich bin jung, keine Risikogruppe - aber da ist dann die Frage, wann ich meine Familie wieder sehe. Eigentlich wollte ich Ostern kommen, aber das geht nicht. Wenn ich die Grenze überschritten habe, dürfte ich nicht mehr zurück. Und ich hätte viel zu viel Angst, meine Großeltern in Gauaschach anzustecken.
Was meinen Sie, wie lange das noch dauern könnte?
Ich schaue mittlerweile nicht mehr jeden Tag Nachrichten, das würde mich verrückt machen. Ich hoffe, in zwei bis drei Monaten hat es sich beruhigt.
Was machen Sie denn nach der Arbeit?
Tatsächlich kochen wir so viel wie nie zuvor, wir lesen ausgiebig, schauen TV oder aus dem Fenster. Abends scheint die Sonne in die Küche, das fühlt sich dann toll an. So geht jeder Tag ineinander über. Was mich am meisten stört: Ich bin jung, agil, flexibel, ich machte dreimal die Woche Sport, ich habe mich mit Menschen getroffen - ich war immer aktiv. Jetzt erlebe ich ein Gefühl, dass ich gar nicht so richtig wach werde, dass ich träge bin. Man wird müde, wenn so viel Lebensqualität fehlt, das lässt einen trübe dahindümpeln.
Wie steuern Sie dagegen?
Mit Kommunikation. Mein Freund und ich reden viel. Wir skypen mit Freunden, verabreden uns auf ein virtuelles Bierchen. Mit meinen Eltern und den Großeltern telefoniere ich viel.
Wenn Sie einen Vergleich ziehen: Wer macht es besser - Deutschland oder Frankreich?
Ich finde den Gedanken generell schöner, dass man dem Einzelnen seine Verantwortlichkeit lässt und zwar über sich und seine Mitbürger. Wir alle wissen, was richtig ist. Bayern zeigt, dass das funktionieren kann. In Frankreich funktioniert die Gesellschaft anders, was mit Zentralstaat und der Geschichte Frankreichs zusammenhängt. So hat der Präsident hier eine extrem starke Rolle und wenn er sagt "Die Nation sorgt für ihre Kinder", dann meint er das so. Und die Franzosen machen das nicht von sich aus, die warten, dass der Staat sich sorgt. Und genau deshalb muss die französische Regierung so streng sein, sonst funktioniert das hier nicht. Wenige Tage vor der Ausgangssperre hat auch Macron gebeten, drinnen zu bleiben - es hat sich wirklich niemand dran gehalten. Die Menschen saßen dicht an dicht in Parks oder Cafés. In Bayern finde ich es schöner: da hat man nicht nur Null oder 100 - hier wird auf Eigenverantwortung gesetzt und es scheint gut zu funktionieren. Dieses bayrische Verhältnis von Politik zum Bürger ist doch sehr viel wert.