
Auch wenn die tollsten Organisten und Organistinnen an den größten Orgeln die tollsten Werke spielen, werden wohl Orgelkonzerte nie die großen Massen anlocken.
Dieses Format tut sich schwer mit der allgemeinen Neugier und Sympathie, denn Orgelmusik hat einen schwierigen Ruf. Sie gilt vielen als verkopft, konstruiert, emotionslos, sie ist gerne mal zu laut oder zu hart – das eine oder andere Mal sicher nicht ganz zu Unrecht. Auch die Rahmenbedingungen sind nicht immer die besten. Die Kirchen sind oft zu kalt und die Kirchenbänke drücken ins Kreuz. Im Gottesdienst kann man ja wenigstens immer mal aufstehen. Aber hier.
Da ist schon einige Leidensfähigkeit gefragt. Ein Aspekt, den man nicht vergessen darf, ist allerdings, dass im Orgelkonzert die Zuhörer ständig überfallen werden. Sie schauen nicht nach vorne auf eine Bühne, wo sie nicht nur die Musiker sehen, sondern auch verfolgen können, was diese gerade machen, womit sie gerade beginnen, wie sie ihre Klänge erzeugen.
Sie sehen keinen Dirigenten, der Entwicklungen in Gang setzt oder gestisch vorwegnimmt. Im Orgelkonzert sehen sie in ihrer Blickrichtung nichts, was unmittelbar mit der Musik zu tun hat. Die Töne fallen ihnen sozusagen von hinten oben ins Genick. Da macht sich bei manchem das Gefühl des Ausgeliefertseins breit.
Orgelspiel mit Kameraübertragung
Dass das nicht so sein muss, zeigte jetzt Kantor Jörg Wöltche an der Steinmeier-Orgel der Erlöserkirche in einem Orgelkonzert mit dem durchaus mutigen Titel „Schwere Brocken“.
Er hatte mit seinem Team in der Vierung unter der Kuppel eine große Leinwand aufgestellt, die die Kameraaufnahmen von der Orgelbank auf der Empore gezeigt wurden. Nicht, um sich ins rechte Licht zu setzen – er selbst war nur ganz selten zu sehen, sondern die Kameras waren auf die drei Manuale und die Hände sowie auf die Füße und das Pedal gerichtet.

Man konnte also nicht nur sehen, was für eine enorm kraftraubende Arbeit das Orgelspiel ist – im Gegensatz etwa zum Klavier mit seinem geradezu weichen und kurzen Anschlag. Sondern auch, welche Konzentration es erfordert, auch die Füße passgenau zu steuern („zwei Füße blind“).
Das wirklich verblüffende war aber, dass man die Musik ganz anders hörte: wesentlich facettenreicher, strukturierter, spannender. Plötzlich waren die Klänge in ihrer Entstehung nachvollziehbar, plötzlich sah man, dass die Hände die Manuale wechselten, und wusste, dass sich die Klangfarben ändern würde, was man mit Spannung erwarten konnte; plötzlich sah man, wenn eine Melodie vom Manual ins Pedal wechselte oder wie sich Dialogstrukturen entwickeln konnten.
Plötzlich hatte – wie das in Frontalkonzerten üblich ist – das Hören visuelle Unterstützung. Wobei man auch beobachten konnte, dass Jörg Wöltche durch eine elastische Agogik und Dynamik auch den verkopftesten Fugen noch Emotionen entlocken konnte. Man war gefesselt.
Programm der schweren Brocken
Konnte man auch sein bei dem Programm, bei dem man beim ersten Überfliegen ins ungläubige Staunen geriet: „Die großen Brocken“ hieß es, und selten hat ein Titel so gestimmt wie hier.
Denn da versammelten sich – fast – alle Werke der Orgelliteratur, die lang und vor allem schwer sind: Johann Sebastian Bachs Präludium du Fuge e-moll BWV 548, Felix Mendelssohn-Bartholdys Orgelsonate op. 65/6, Léon Boëllmanns „Suite gotique“ und, als massiver Schlussstein, Max Regers Phantasie über „Ein feste Burg ist unser Gott“.
Und dazwischen ein paar kürzere, aber keineswegs leichtere Stücke zur stärkeren Strukturierung des Programms. Oder anders gesagt: 80 Minuten reine Spielzeit.
Fraglich, ob sich Jörg Wöltche so etwas selbst zusammengestellt hätte, aber es war der Geburtstagswunsch eines Freundes, und da gibt es kein Entkommen.
Was sofort auffiel, war, dass es in diesem Konzert nicht um die Orgel und ihre 1000 Registerkombinationen ging – also nicht um Effekte. Sondern die Musik stand im Mittelpunkt, die Klarheit ihrer Darstellung, die Jörg Wöltche mit einer eher sparsamen, aber enorm sachdienlichen Registrierung erreichte und trotz eines flotten Zugriffs etwa bei Bachs Präludium du Fuge e-moll BWV 548 und dem Choral „Von Gott will ich nicht lassen“ BWV 658.
Hohe Ansprüche der Musikauswahl
Da wurden die nicht immer einfachen Strukturen sehr gut deutlich, insbesondere in der Fuge mit ihren plastischen Themenköpfen. Da wurde ganz einfach die Qualität hörbar. Bei Dietrich Buxtehudes Präludium, Fuge und Chaconne C-dur BuxWV 137 konnte man in den starken Kontrasten schon den Kampf zwischen David und Goliath hören, an den der Komponist beim Schreiben gedacht haben soll.
Nikolaus Bruhns‘ Präludium du Fuge e-moll war von der Länge her eher unauffällig, aber im Sinne des norddeutschen „Stylus phantasticus“ voller harmonischer und rhythmischer Raffinessen. Dank der Bildübertragung konnte man hier besonders deutlich sehen, welche enorm virtuose Ansprüche diese Musik stellt.
Mit Felix Mendelssohn-Bartholdys wunderbar sanglichem Andante religioso uns der 4. Orgelsonate op. 65/4, aber vor allem mit der kompletten Orgelsonate op. 65/6 wurde deutlich, wie sich in der Romantik das Klangideal gewandelt hat – weg vom Bläser- hin zum Streicherklang, mit allen Folgen für Artikulation und Anschlag.
Aber in einer spannenden Beziehung dazu steht die noch an Bach orientierte Formensprache, mit der Mendelssohn als Herausgeber ja immer zu tun hatte. Ein interessantes Gefecht mit langen Spannungsbögen und hoher Emotionalität.
Die „Suite Gothique“ ist das bekannteste Werk des Elsässers Léon Boëllmann . Sie ist populär, weil sie starke Kontraste vereint: das Prunkvoll-Hymnische, aber nicht Pathetische, wie im „Maestoso“ des ersten Satzes gegen das historisch längst überholte „Menuet Gothique“, dessen tänzerischen Rhythmus Jörg Wöltche derart pfiffig artikulierte, dass man sogar in einem Orgelkonzert einmal lachen konnte.
Orgel wird an die Grenzen gefordert
Die Toccata hinterließ einen umwerfenden Eindruck. Denn da wird die Orgel bis an die Grenzen ihrer klanglichen Möglichkeiten gefordert. Und trotzdem dürfen die rhythmischen, motorischen Grundlagen nicht verwischt werden. Und das funktionierte bestens.
Nach der-Toccata wirkte Friedrich Silchers Choralvorspiel „Ein feste Burg ist unser Gott“ fast ein bisschen naiv mit seiner relativen Ruhe, struktureller Schlichtheit und seinen liegenden Tönen. Aber es bot für alle Beteiligten ein bisschen Erholung, und die war nötig, denn dann ging’s die steilen Felsen hinauf zu der berühmt-gefürchteten Phantasie über die „feste Burg“.
Jörg Wöltche spielte sie mit einem enormen, kompromisslosen Zugriff. Und man konnte sich den grimmigen Max Reger auf seiner Orgelbank vorstellen bei der verbissenen Suche nach immer mehr, immer komplizierter, immer voluminöser. Schließlich kann man mit zehn Fingern und zwei Füßen ja auch 14 Töne gleichzeitig spielen.
Und trotzdem: Bei allem Trubel blieb die Musik ausgesprochen klar konturiert und mitreißend. Ein fantastischer Schluss! Und alle hatten durchgehalten, sogar die Orgel. Denn Jörg Wöltche hatte noch kurz vor dem Konzert einen undichten Blasebalg mit Panzerklebeband provisorisch flicken müssen. Aber Provisorien halten bekanntlich am längsten.
Lesen Sie auch: