
Der Bad Kissinger Herbert Danzer ist Oberst a.D. und ein ausgewiesener Russlandkenner. Und Kritiker. Der 76-Jährige hat mehrere Jahre in Moskau gelebt und für die Bundeswehr und das Auswärtige Amt als Heeresattaché an der Deutschen Botschaft und für die Nato Verbindungsmission in Moskau gearbeitet. Im ersten Teil unseres Interviews ging es um Sicherheitspolitik, aufgekündigte Abrüstungsverträge und die Entwicklung des Ukrainekriegs unter Berücksichtigung des Ausgangs der Wahl des US-Präsidenten. Im zweiten Teil beleuchtet Danzer die Narrative und Propaganda-Erzählungen, die vom Kreml ausgehen und hierzulande immer mehr geglaubt und verwendet werden. Und er erklärt die wirklichen Bedrohungen Russlands.

Herr Danzer, was nicht nur in diversen Telegram-Kanälen zu lesen, sondern auch von Politikern und Politikerinnen der AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht zu hören ist: Die Osterweiterung verletzte russische Sicherheitsinteressen. Da geht es um gebrochene Versprechen, darum, dass „die Einkreisung Russlands“ eine Bedrohung darstelle.
Der Begriff „ Nato-Osterweiterung “ ist bereits Teil einer unzutreffenden Propaganda: Es existierte kein Plan der Allianz, die bis 1994 völlig unvorbereitet war. Eine Aufnahme bedarf der Zustimmung aller Staaten, meist mit parlamentarischer Beteiligung. Der Wille zum Beitritt in das Bündnis war die Flucht unabhängiger Staaten vor dem erneut möglichen russischen Joch und damit das größte sicherheitspolitische Misstrauensvotum der jüngeren Geschichte. Dieser Bewertung hat bisher kein russischer Offizier widersprochen. Die jüngsten Erweiterungen um Finnland im April 2023 und Schweden im März 2024 hat Russlands Präsident Wladimir Putin persönlich zu verantworten.
Was ist mit „keinen Inch nach Osten“?
Das wird von Präsident Putin und anderen als Versprechen ausgelegt, was in die Irre führt. Entsprechende Aussagen machten insbesondere US-Außenminister James Baker und der damaligen Außenminister Hans-Dietrich Genscher meist in Pressekonferenzen während der Frühphase der Verhandlungen um die Deutsche Einheit, den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen 1990. Es ging nur um die Frage, ob das Beitrittsgebiet, also die ehemalige DDR, auch Teil des Territoriums der Allianz sein wird. Im Artikel 5 des Vertrags sind die militärischen Aspekte des wiedervereinigten Deutschlands als Nato-Mitglied festgelegt, die bis heute vollumfänglich eingehalten werden; die immer wieder von Moskau thematisierten Versprechungen sind darin nicht enthalten. Dies heute als Versäumnis der UdSSR darzustellen, widerspricht allen Erfahrungen mit den sehr versierten sowjetisch-russischen Diplomaten. Es gab die frühe Aussage Gorbatschows: Die UdSSR existierte noch; es ging ausschließlich um die Bedingungen der Wiedervereinigung. Außenminister können nicht mit solchen in die Zukunft gerichteten Aussagen Rechte souveräner Staaten auf Beitritt und Aufnahme in Bündnisse einschränken. Hier empfehle ich den Leserinnen und Lesern die Dokumentation im TV Sender Phoenix/ARD: „Poker um die Deutsche Einheit – Wurde Russland in der Nato-Frage getäuscht?“. Den Film hat Ignaz Lobo, Osteuropa-Historiker und Gorbatschow-Biograf, gemacht.
Staaten hatten und haben also das souveräne Recht, Bündnisse einzugehen.
So ist es. Sogar sowjetische Verträge (GUS, Organisation des Vertrags über Kollektive Sicherheit) enthalten solche aus der Charta der Vereinten Nationen (VN) abgeleitete Souveränitätsrechte von Staaten. Außerdem wurden schon vor der ersten Aufnahme von Polen, Ungarn und Tschechien 1999 mit der 1997 in Madrid vereinbarten Nato-Russland-Grundakte Moskaus Sicherheitsinteressen berücksichtigt. Russland und viele andere Staaten waren bereits 1994 dem PFP-Programm beigetreten, das zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen der Nato und den Partnerländern beitrug. 2002 wurde mit dem „ Nato-Russland-Rat “ die Kooperation auf eine neue, höhere Stufe gebracht. Putins Kommentar bei einer Pressekonferenz mit Bundeskanzler Gerhard Schröder in Moskau 2004 lautete: Er habe „keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation“.
Und wie bewerten Sie das Narrativ der „Einkreisung Russlands“?
Eine Landmacht mit elf Zeitzonen und gut 60.000 Kilometer Gesamtgrenze, davon 40.000 Kilometer Landgrenzen und etwa 2300 Kilometer mit sechs von 32 Bündnisstaaten kann nicht eingekreist werden. Bis 2009 standen keine Truppen an Russlands Grenzen, und es gab es keine Einsatzpläne der Nato zur Verteidigung im Osten. Begrenzte Streitkräfte der Nato wurden erst ab 2014 auf Rotationsbasis vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer stationiert. Moskau war informiert und konnte diese Truppen besichtigen; reziproke, also spiegelgleiche Maßnahmen vom Kreml wurden niemals angeboten.
Und ist Russland tatsächlich bedroht, wie viele immer wieder anführen?
Das Verteidigungsbündnis meist demokratischer Staaten stellt bis heute keine wirkliche Bedrohung für Moskau dar. Durch die intensive Kooperation mit den USA und der Nato bis 2007 erhielten Politiker, Militärs und Geheimdienstler der Russländischen Föderation einen tiefen Einblick in die Stärken und Schwächen der Allianz mit ihren manchmal zähen Diskussionen und Konsens-Entscheidungen. Kein russischer Offizier hat gegenüber uns in Moskau jemals bejaht, dass dieses Bündnis eine echte Gefahr für sein Land sein könnte. Die größte Nuklearmacht der Welt mit gesicherter atomarer Zweitschlagsfähigkeit kann nach Ansicht von Experten nicht glaubhaft in ihrer staatlichen Existenz bedroht sein.
Immer wieder wird auch behauptet, die Russische Föderation hatte oder hat keinen angemessenen Platz in der europäischen Sicherheitsordnung.
Ja, das wird gesagt und zwar auch zunehmend in Deutschland; manchmal mit der dreisten Lüge, dass wesentliche Entscheidungen ohne, beziehungsweise gegen das Land beschlossen wurden. Ein Blick auf die Europäische Sicherheitsarchitektur bietet jedoch ein anderes Bild. Grundlage sind die Charta der Vereinten Nationen und die VN -Menschenrechtskonventionen sowie diese vier wesentlichen Säulen: 1) Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ( OSZE , vor 1995 KSZE) mit diesen Dokumenten: Helsinki Schlussakte ; Pariser Charta; Verträge über Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung; Verhaltenskodex und die Europäische Sicherheitscharta. 2) Der Europarat sowie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und die Europäische Menschenrechtskonvention. 3) Die Europäische Union mit der Charta der Grundrechte, ihrer Sicherheitsstrategie, Partnerschaften mit Russland 1997 und 2003, einer Nachbarschaftspolitik, die Union Mittelmeer sowie die Östliche Partnerschaft seit 2009. 4) Die Nato mit der gemeinsamen Erklärung Nato-Warschauer Pakt, dem Euroatlantischen Kooperationsrat, die Partnerschaften für den Frieden, die Grundakte Nato-Russland und die Nato-Russland-Erklärung 2002.
Eine lange Liste, die belegt, wie eingebunden Russland war und ist.
Ja, Russland war in alle Elemente der europäischen Sicherheitsordnung integriert. In den Vereinten Nationen sogar mit Vetorecht, Russland gehörte bis Februar 2024 zum Europarat , zu den OSZE-Ländern und war in allen Gremien prominent vertreten. Mit den exklusiven Organisationen EU und Nato hatte Russland strategische Partnerschaften mit weitgehenden Befugnissen erhalten, allerdings ohne Vetorecht. Inzwischen ist das Land suspendiert, beziehungsweise hat selbst die Kooperationen gekündigt. Die Behauptung des Kremls, keinen angemessenen Platz in Europa gehabt zu haben, ist diplomatisch gesagt „objektiv nicht gerechtfertigt“, vulgo: eine Lüge. Moskau hatte eine Etage im Europäischen Haus. Das Land hat alle Verträge sowie Entscheidungen dieser Gremien unterzeichnet und deren Erfüllung im guten Glauben versprochen. Es war mit den Bestimmungen der von bis zu 57 Staaten genehmigten, europäischen Hausordnung offensichtlich nicht einverstanden. Auch das war wieder die Entscheidung einer Person - von Putin.
Ausgrenzung klingt tatsächlich anders.
Lassen Sie mich kurz die meines Erachtens wirklichen Bedrohungen Russlands nennen, die dem Präsidenten gut bekannt sind. Da ist zum einen die Demografie. Russlands Bevölkerung schwindet; die russische Ethnie ist in manchen Regionen in der Minderheit. Und der Klimawandel mit dem Rückgang des Permafrosts. Ich habe selbst 2001 ein Haus in Irkutsk gesehen, das bereits bis zum ersten Stock im Boden versunken war, da der Boden auftaute. Außerdem: der internationale Terrorismus mit seinen Ablegern im Kaukasus und in Zentralasien. Und letztlich Putin selbst. Der Präsident hat mit seiner Politik weniger die nationalen Interessen seines Landes und die seiner Bürger im Blick, als vielmehr seine eigenen zum Aufbau eines neuen russischen Imperiums als Zentrum einer neuen Weltordnung.
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