Zum Auftakt der sieben Jubiläumsveranstaltungen anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Bad Kissinger Hospizvereins sprach der frühere Bremer Bürgermeister Henning Scherf (81, SPD ) über sein Leben im Alter, über Sterbebegleitung und Tod. Als Mitbewohner der wohl berühmtesten Wohngemeinschaft Deutschlands forderte er dazu auf, "über das Sterben zu reden und Abschied leben lernen", wie auch der Untertitel seines gemeinsam mit der Bremer Professorin Annelie Keil (80) veröffentlichten Buches "Das letzte Tabu" (2016) empfiehlt - ein Buch über "persönliche, bittere und tröstliche Erfahrungen mit dem Tod und den Umgang mit dem Sterben".
Der Bad Kissinger Hospizverein hätte sich keinen geeigneteren Gast zum Jubiläumsauftakt im vollbesetzten Saal des evangelischen Gemeindehauses wünschen können. Statt aus seinem 250 Seiten starken Buch vorzulesen, zeigte der aus zahlreichen SPD-Wahlkämpfen in Bürgernähe geübte Politiker schon vor Beginn der Veranstaltung, worauf es in der ehrenamtlichen Hospizarbeit ankommt: "Nicht nur Sonntagsreden zu halten, sondern menschliche Teilnahme zu leben." Er ging durch die Reihen, begrüßte jeden der 120 Gäste mit Handschlag und nicht selten nahm er einen Gast in den Arm.
"Sterben ist eigentlich nicht mein Thema", begann er dann seine mit Anekdoten gewürzte Erzählung aus dem Alltag seiner Senioren-Wohngemeinschaft in Bremen. Kinder und Enkel kommen dort nicht zu Besuch, sondern sind ein Teil dieser Gemeinschaft. "An Heiligabend ist bei uns die Hütte voll." In der WG sei es möglich, mittels ambulanter Palliativ-Medizin "zuhause in vertrauter Umgebung" zu sterben, zeigte Scherf an Beispielen. "Es ist eine Hilfe, wenn man beim Sterben Menschen um sich versammelt hat." Als einst die WG-Gründerin im Sterben lag, "war immer einer da, der neben ihr saß". Vor vielen Jahren, schilderte Scherf einen anderen Fall, spielten seine noch kleinen Enkelkinder, die häufig zu Besuch in der WG waren, wie selbstverständlich und unbeschwert im Zimmer eines sterbenden Mitbewohners - auch in der Stunde seines Todes. "Ich habe gespürt, dass das Kinderspiel ihn noch erreicht hat, dass er nicht allein war."
Bei der Sterbebegleitung reicht es nicht, aus eigener Lebenserfahrung zu schöpfen. "Es gibt im Hospizdienst auch viel Neues zu entdecken." Dabei habe er "die stärksten emotionalen Erfahrungen gemacht - eindrucksvoll, nachhaltig", bekannte der 1938 Geborene und erzählte vom Tod seiner geliebten Großmutter, "die in meinen Armen starb, als ich Fünfzehn war". Als Gymnasiast half er in den Sommerferien in der Bethel'schen Anstalt aus. "Einmal saß ich die ganze Nacht am Bett eines Sterbenden, eines mir völlig unbekannten Menschen." In den wenigen lichten Momenten habe dieser dem 17-Jährigen sein ganzes Leben erzählt und seine Sünden gebeichtet. "Er packte sein ganzes Leben in meine Hände." Es war eine Erfahrung für den jungen Scherf, mit der umzugehen, er erst lernen musste. "Abschiednehmen zu lernen, ist ein Prozess." Sterbebegleitung sei eine wichtige Erfahrung im Leben: "Der Tod verliert seinen Schrecken."
Hospizbegleitung sei allerdings nicht nur Sterbebegleitung , betonte Scherf, sondern durch richtige Trauerarbeit führe man Hinterbliebene auch zurück ins Leben, ohne den Verstorbenen aus der Erinnerung zu verlieren. So bemühte sich die WG für ein frei gewordenes Zimmer um einen verwitweten evangelischen Pastor, der seine vertraute Wohnung kaum noch verließ. Scherf: "Wir haben meinen Schulfreund aus seiner Trauer herausgeholt." Jetzt lebt dieser ebenfalls 81-Jährige in Scherfs WG und ist wieder glücklich. "Kürzlich hat er sich frisch verliebt!"
Für die Sterbebegleitung braucht man keine akademische Ausbildung, nur Zeit, warb Scherf für den ehrenamtlichen Hospizdienst und würdigte den Einsatz der etwa 150 000 Hospizbegleiter in Deutschland. "Sie sind das Beste, was unsere Gesellschaft heute zusammenhält, und hätten Schlagzeilen in den Medien verdient." Der Hospizverein sollte mit Schulen zusammenarbeiten, empfahl Scherf dem Kissinger Vereinsvorsitzenden Reinhard Höhn . Man müsse mehr junge Menschen für diese Tätigkeit gewinnen. "Denn Hospizarbeit ist eine wichtige Erfahrung fürs Leben." Seine Enkelin sei dadurch so beeindruckt worden, dass sie sich für das Studium der Psychologie entschieden habe.
Informationen zum Buch: Henning Scherf , Annelie Keil: "Das letzte Tabu", Herder-Verlag, gebunden, 256 Seiten, Preis: 20 Euro, ISBN 978-3451349263
Buchvorstellung:
Keine Veranstaltung des Hospizvereins, sondern eine Fremdveranstaltung zu dessen Gunsten ist die Buchvorstellung von Lesetipp-Autor Sigismund von Dobschütz . Er liest aus aktuellen Büchern am Mittwoch, 13. November, 19 Uhr, im SoLeb'Ich-Café, Ludwigstraße 23. Veranstalter ist "seitenweise. Die Buchhandlung" (Claudia Bollenbacher). Der Eintritt kommt dem Bad Kissinger Hospizverein zugute.