Neue und vor allem interessante Wege präsentiert der Kissinger Sommer 2024, auch wenn mit dem Schwarzweißfilm „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt “ ein cineastischer Blick zurück in das Jahr 1927 erfolgte. Damit hat Intendant Alexander Steinbeis ein ansprechendes Format als Mischung aus dokumentarischem Stummfilm und begleitender Orchestermusik geschaffen, das zu später Stunde rund 350 Gäste in den Max-Littmann-Saal lockte.
Ein Kinoerlebnis der besonderen Art
Der Regentenbau präsentierte sich als Kinopalast mit einer überdimensionalen die Leinwand über der Bühne und darunter das Salonorchester der Staatsbad Philharmonie Bad Kissingen, das unter der Leitung von Stefan Geiger und mit der Orchesterpartitur von Hans Brandner zum Gelingen der Spätvorstellung beitrug. Gedreht wurde der Film von Walter Ruttmann und nutzte die neu entwickelte Technik, einen Film in möglichst kurzen Sequenzen zu schneiden. Der Film wurde im Jahr 2007 aus Beständen des ehemaligen Reichsfilmarchivs restauriert. Die Originalmusik komponierte Edmund Meisel, wovon nur noch eine Klavierfassung erhalten blieb. Später wurden verschiedene Bearbeitungen für Orchester beauftragt, darunter die von Hans Brandner. Hintergrund der aufwändigen Restauration war der dokumentarische Charakter des 1446 Meter langen und 64 Minuten dauernden Films, der einen Tag in der Reichshauptstadt Berlin der 20er Jahre beschreibt und als zeitgenössisches Dokument die damaligen Lebens- und Arbeitsverhältnisse zeigt.
Wenn Maschinen den Alltag dominieren
So startet der Film auch mit leeren Berliner Straßen, die im tristen Schwarz-Weiß-Kontrast die Trostlosigkeit einer Großstadt im industriellen Wandel zeigen. Doch dann öffnen sich die Türen der Häuser, der Verwaltungen und der Betriebe und zu sehen ist ein Gewimmel an Menschen, die in alle Richtungen strömen. In kurzen Sequenzen werden das erwachende Leben in den Straßen gezeigt: Müßiggänger ebenso wie Gehetzte, Kinder auf dem Weg zur Schule, Werkstore, die Arbeiter verschlingen, Züge, die Menschen ausspucken, oder das chaotische Verkehrsgewimmel aus Pferdedroschken, Autos oder Straßenbahn . Die Technik bestimmt den Rhythmus und so werden in immer schnelleren, kürzeren Einspielungen die Maschinen gezeigt, die den Takt vorgeben, den hektischen Alltag bestimmen und den Menschen dominieren - Charlie Chaplins Kinofilm „Moderne Zeiten“ lässt grüßen. Verstärkt wird der Eindruck durch die Musik, die die die Macht der Bilder mit Pauken und Trompeten intensiviert.
Über die Hektik einer Großstadt
Nach einer kurzen Verschnaufpause zur Mittagspause nimmt der Film die Taktzahl der Großstadt wieder auf. Immer wieder sind es die Menschen, die im Mittelpunkt stehen und wie Getriebene der Großstadt wirken. Wie zufällig wirkt die Auswahl der kurzen Alltagsszenen, die mal eine Hochzeitsgesellschaft, mal einen Konflikt zeigen, mal den Überfluss einiger und dann wieder die Bedürftigkeit von vielen. Erst mit dem Abend kehrt Entspannung ein und die Kamerasequenzen zeigten die sportlichen Freizeitaktivitäten in den Parks und Schwimmbädern oder das überschäumende Vergnügungspotential einer Stadt, deren pochender Rhythmus nur für wenige Stunden ruht. Das schwarz-weiße Kaleidoskop einer hyperventilierenden Großstadt hat Walter Ruttmann bewusst mit kurzen, teils nur wenige Sekunden dauernden Sequenzen skizziert, wobei er schon damals die Abhängigkeit des Menschen, ja die Ausbeutung des Menschen und die Verelendung der Gesellschaft vor dem Hintergrund der Industrialisierung thematisiert hat. Begleitet wurde diese visuelle Reise durch die Berliner 20er Jahre durch ein Salonorchester, das mit Können, Spielfreude und hochkonzentriert die 64 Minuten untermalte. Dank der präzisen Führung durch Stefan Geiger wurden die teils radikalen Schnitte des Films in dramaturgische Klangwelten übersetzt, die die Inhalte des Films unterstützten – sowohl in den beklemmenden wie auch in den heiteren Sequenzen. Der begeisterte Beifall und zustimmende Bravo-Rufe zeigen den Erfolg des gelungenen Experiments.