Da wäre dem Michl Müller sicher das Herz aufgegangen, wenn er zum Fenster rausgeschaut hätte: Da zog sich, schon eine Viertelstunde vor dem Einlass eine breite Schlange von Wartenden vom Eingang der Turnhalle durch den gesamten Schulhof der Henneberg-Schule bis hinaus auf die Straße. Und als die Türe geöffnet wurde, war in Nullkommanichts der Saal randvoll - und das eine Stunde vor dem offiziellen Beginn des Programms. Das ist natürlich der Vorteil von Heimspielen, wenn man sich ansonsten eher rar macht - abgesehen von den BTC-Gastspielen.
Aber man kann die Leute verstehen; es wird ihnen ja auch etwas geboten. Der heute 47-jährige Kabarettist aus Garitz - das hätte sich vor 48 Jahren wirklich niemand vorstellen können - ist zu einem großen Kleinkunstkünstler gereift, der gegenüber anderen Kabarettisten - von den Comedians wollen wir gar nicht reden - einige Alleinstellungsmerkmale entwickelt hat. Klar, sein großer Vorteil ist: Er ist Franke. Die werden schon wegen ihrer geradezu kompromisslerischen weichen Aussprache von Ortsunkundigen nicht gleich ernst genommen, und es dauert eine Weile, bis sie merkten, mit welchem Kaliber da geschossen wird.
Aber er hat auch die Gabe, mit großen Schritten und ausladenden Gesten pausenlos über die breite Bühne zu tigern. Manche seiner Kollegen schaffen es mit mühe bis zur Rampe, wo sie sich am Mikrofon festhalten. Aber Michl Müller schafft damit zweierlei. Er macht sich's damit insofern bequemer, als Schauspieler ihre Texte oft mit Bewegungen und Gängen in Verbindung bringen, um sie sich leichter zu merken. Für das Publikum macht's das nicht einfacher, denn es muss ihn auch mit den Blicken verfolgen und dadurch die Konzentration noch erhöhen.
Wobei es immer wieder erstaunlich ist, zu welcher Konzentration Michl Müller fähig ist, welche Textmengen er bewältigt, ohne hängen zu bleiben, ins Stottern zu geraten oder Notpausen zu brauchen, um sich schnell etwas anderes zu überlegen. Und wie er sein Programm in hohem Tempo kompromisslos durchzieht. Und wie er sein Publikum dabei im Blick behält. Wenn er merkt, dass die Leute an ihre Aufnahmegrenze geraten, wird schnell ein Lied eingeschaltet, bei dem alle mitsingen können. Und wenn er nach 80 (!) Minuten die Pause ausruft, dann nicht, weil er sie vielleicht bräuchte, sondern dass die Leute mal kurz ihr Hirn auf Standby schalten und ihre Lebensmittelvorräte ergänzen können.
"Jahresrückblick 2019" hieß sein Programm, und das öffnete natürlich alle Türen, was die Sache nicht ganz leicht machte. Denn Michl Müller ist ein Schnell- und Querdenker, der vom Hundertsten ins Tausendste kommt und trotzdem nie den Faden verliert, der mit Rückbezügen arbeitet und mit unerwarteten, aber schlüssigen Verknüpfungen, der alles weiter als üblich denkt, manchmal bis über die Schmerzgrenze hinaus - aber nie unter die Gürtellinie. Auch wenn es den durch den Kakao Gezogenen nicht gefällt, was er sagt - wegen übler Nachrede können sie ihn nicht verklagen, denn er begründet eigentlich immer seine in Witze gekleideten Vorwürfe. Und man sitzt als Zuhörer da und denkt sich immer wieder, wenn man nicht gerade lacht: "So traurig es ist, er hat doch recht."
Dabei ist er beim Austeilen wirklich überparteilich. Alle bekommen ihr Fett weg in der Bundes- und auch etwas Landespolitik. Am liebsten scheint er über das Damentrio Angela Merkel - Ursula von der Leyen - Annegret Kramp-Karrenbauer herzuziehen, aber letztlich liegt das daran, dass die am häufigsten in den Schlagzeilen standen und dadurch am bekanntesten wurden. Es wurden ja auch die Männer bedacht: Gestalten wie Peter Altmeier oder Friedrich Merz oder der Horst: Und manche der Spitzenpolitiker und -politikerinnen konnten gar nicht so unbekannt sein, dass er sie nicht zur näheren Betrachtung ins Rampenlicht gezogen hätte. Man begann zu verstehen, warum das letzte Jahr den Eindruck des politischen Stillstands geweckt hatte und warum man zu der Auffassung gekommen war, dass die deutsche Verkehrspolitik in den letzten Jahren ziemlich bescheuert war. Oder warum in Deutschland eine Parade der Bundeswehr nicht möglich ist: Wie soll das denn gehen bei dem Fuhr- und Flugzeugpark?
Nur an einer kleinen, geradezu beiläufigen Stelle hat er wohl im Eifer des Gefechts einen kleinen, etwas populistischen Ausrutscher: als er sich, durchaus begründet, über den personell unsinnig aufgeblasenen Deutschen Bundestag mokiert: Man solle doch nur noch den direkt gewählten Kandidaten einen Sitz zuweisen. Natürlich wird da applaudiert. Aber hat er sich das wirklich gut überlegt? Dann hätten wir das amerikanische und vor allem das britische Wahlsystem aus der Mottenkiste der Verfassungsgeschichte, dann wäre der Bundestag kein Spiegel der politischen Strömungen. Hätte es das "System Müller" schon 2017 gegeben, sähe die Sitzverteilung so aus: CDU mit 26,8 Prozent und 185 Direktmandaten; tatsächlich 200 Sitze; SPD 20,5%, DM 59, S 153; AfD 12,6%, DM 3, S 94; FDP 10.7%, DM 0, S 80; Die Linke 9,2%, DM 3, S 69; Grüne 8,9% DM 1, S 67; CSU 6,2%, DM 46, S 46. Das heißt: CDU und CSU hätten 231 der 299 Sitze. Die CDU könnte auch mühelos allein regieren. Ob er das wirklich will?
Aber Michl Müller ist nicht nur lautstark. Immer dann, wenn er - im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen - persönlich und dadurch eigentlich auch angreifbar wird, wird seine Stimme leise und weich. Wenn er die Realität der Gegenwart in Beziehung setzt zu den Erinnerungen aus seiner Kindheit, in der - das weiß natürlich auch er - nicht alles besser war. Dann wird seine Stimme leise und weich wie in einigen seiner Lieder von der Fischdose oder der Nacht am Kilimandscharo. Oder, ganz zum Schluss ("Geht noch eins?") bei der "Fleischereifachverkäuferin", die ihm als Kind bei den Einkäufen immer noch eine dicke Scheibe Gelbwurst geschenkt hat. Da ist er plötzlich wieder der kleine staunende Junge. Aber wie er da so innig singt, fragt man sich, ob er diese Scheibe heute immer noch bekommt. Denn ein bisschen Kind geblieben ist er ja doch.