Bad Kissingen
Ein Mann für die Langstrecken
Igor Levit spielte ein langes und strapaziöses Programm. Aber was hätte er denn tatsächlich weglassen sollen?

Das war mal wieder ein typisches Igor-Levit-Programm, das neben Vorfreude durchaus auch Ängste wecken konnte: die ganze Welt in einen Abend packen, aus zwei Konzerten eins machen: zu Beginn Beethovens Klaviersonate F-dur op, 54 - gut, die hat nur zwei Sätze und dauert auch nur zwölf Minuten. Aber dann der große, vierteilige 45-minütige Zyklus "Dreams II", den der Amerikaner Frederic Rzewski 2014 für Igor Levit komponiert hat. Dann war Pause. Und dann kam eines der Monumente der barocken Klavierliteratur: Johann Sebastian Bachs "Goldberg-Variationen" - also 30 Veränderungen in einer Stunde. Was hätte er weglassen können oder sollen? Die Antwort war am Ende eindeutig: Nichts!
Zumal das Programm auch klug zusammengestellt war. Mit Beethovens op. 54 zu beginnen war ein kluger Schachzug. Da konnte Igor Levit starke expressive Kontraste gestalten. Wie sehr er sich da unter Druck und Spannung setzte, merkte man an seinem rechten Bein, das er geradezu zurückhalten musste, nicht den Rhythmus mitzu-stampfen. Ein gutes Zeichen: Er brauchte den Fuß nicht für das Pedal. Und das Allegretto mit seiner getriebenen Zweistimmigkeit war so stark auf Konflikt gespielt, fast ein bisschen auf Krawall gebürstet, dass nicht nur spannende, nervös voranstürmende Musik entstand, sondern es stellte sich auch ein Stück übergreifender Nebeneffekt ein: Fredric Rzewskis "Dreams II" verloren ihren befürchteten Schrecken, weil sie wie eine Erleichterung einsetzten.
Denn Rzewski arbeitet im ersten Satz ("Bells") zunächst mit leisen Akkorden und vielen Pausen, als müsse sich die Musik erst finden, um in meditative Schwingungen zu geraten. Mit einem schnellen, technisch höchst anspruchsvollen Tremolo, bei dem sich die Finger beider Hände gegenseitig im Weg zu stehen scheinen, beginnt "Fireflies". Amerikanische "Glühwürmchen scheinen ein Flutlichtein gebaut zu haben, denn es geht schnell zur Sache, und es gilt, kleine Melodiefetzen aus diesem Getümmel herauszuarbeiten - ein Verfahren, mit dem Rzewski den Melodien suchenden Zuhörer zwar bedient, aber auch ständig in die Irre führt. "Ruins" ist der klangmächtigste Satz und vielleicht auch der schwierigste, der den Geist eine hochromantischen Postmoderne atmet. Der letzte Satz ist der schönste. Hier verarbeitet Rzewski das kleine Kinderlied "Wake up!" von Woody Guthrie, führt die Melodie aus zwei Tönen in gefühlten 85 Variationen in eine spannende Auseinandersetzung aus Ausformulierung und Vortrieb - und gibt das (fast) letzte Wort dem Interpreten: In einer Ad-libitum-Improvisation durchleuchtete Igor Levit im hohen Diskant des Klaviers wie mit einem Glockenspiel die charmanten Seiten des Liedes.
In der Rhein-Neckar-Zeitung war nach Igor Levits Uraufführung der "Dreams II" zu lesen: "... verdichtet sich der Eindruck, dass hier zwei musikalische Ironmen ihre Muskeln spielen lassen: Gegen das Bild einer pianistischen Muckibude konnte man sich kaum wehren." Wenn Levit seine Interpretation seitdem nicht deutlich verändert hat, ist das eine erstaunliche Beobachtung. Denn es sind ja eigentlich die leisen Töne, die kreativen Pausen, die im Vordergrund der Erinnerung bleiben. Das ist ja eigentlich das Überraschende an diesem Werk, dass es zwar, was ja nichts Ungewöhnliches ist, (laut)starke Phasen hat. Aber man wird da den Eindruck nicht los, dass Rzewski in seinem tiefsten Grunde ein Romantiker ist, der sich dagegen wehrt, einer zu sein, weil das Alltagsleben, aus dem er seine Musik schöpft, auch nicht so romantisch ist, wie es gerne wäre oder sein sollte. Derartige Positionen zu beleuchten ist eine Leistung des Pianisten, die mit Kraft alleine nicht zu erbringen ist. Da helfen auch keine Pillen. Was da hilft, sind die essentielle Durchdringung dieser Musik und die mitunter etwas selbstquälerische Bereitschaft, diese Durchdringung umzusetzen.
Und dann also noch die "Goldberg-Variationen": eine Stunde Gelegenheit, hochvirtuose Musik zu hören, und alle Zeit der Welt, um sich darüber Gedanken zu machen. Einer der ersten: Gut, dass Igor Levit nicht auf dem Cembalo spielte, sondern auf einem modernen Flügel. Sicher, auf einem zweimanualigen Cembalo sind manche Stellen leichter zu bewältigen als auf dem einen Manual des Flügels. Aber wie stellte der englische Dirigent Sir Thomas Beecham vielleicht etwas drastisch fest: "The sound of a harpsichord - two skeletons copulating on a tin roof in a thunderstorm." Einer Stunde Liebesspiel auf dem Wellblechdach zu lauschen wäre tatsächlich ziemlich ernüchternd gewesen. So konnte Igor Levit mit höchst differenzierten Klangfarben und Anschlagsnuancen gestalten und strukturieren und die Neugier wach halten. Da war zum andern die nicht überraschende, aber doch immer wieder erstaunliche Beobachtung der technischen Souveränität und des enormen Fingergedächtnisses des Pianisten, der auch in den turbulentesten Variationen nicht einen Moment des Zögerns hatte, der auch noch nach einer Stunde mit vollem Risiko spielen konnte.
Aber da war vor allem die gestalterische Potenz des jungen Mannes, der die Schönheit dieser eigentlich doch recht konstruierten Musik zeigte, der ihr seine persönliche Handschrift gab und der zeigte, dass die 30 Variationen nicht beliebig oder beliebig austauschbar sind, sondern dass sie aufeinander verweisen, dass sie einen durchgehenden Bogen spannen, bis die Aria zum Schluss den erlösenden Kreis zum Anfang schließt. So ließ er seinem Publikum keine Möglichkeit, sich auch nur vorübergehend auszuklinken: Man hätte zuviel verpasst.
Es war geradezu beruhigend, weil es etwas so Menschliches hatte: Am Ende war auch Igor Levit total geschafft. An eine Zugabe war nicht mehr zu denken; sie wäre auch unsinnig gewesen. Außerdem musste sich der Pianist eingestehen, gescheitert zu sein: Der Graf Keyserlinck hatte seinerzeit die Goldberg-Variationen bei Bach bestellt, um seiner Schlaflosigkeit Herr zu werden. Aber im Rossini-Saal hat's nicht gewirkt, da ist niemand eingeschlafen.
Anders wäre der frenetische Beifall auch nicht zu erklären.
Zumal das Programm auch klug zusammengestellt war. Mit Beethovens op. 54 zu beginnen war ein kluger Schachzug. Da konnte Igor Levit starke expressive Kontraste gestalten. Wie sehr er sich da unter Druck und Spannung setzte, merkte man an seinem rechten Bein, das er geradezu zurückhalten musste, nicht den Rhythmus mitzu-stampfen. Ein gutes Zeichen: Er brauchte den Fuß nicht für das Pedal. Und das Allegretto mit seiner getriebenen Zweistimmigkeit war so stark auf Konflikt gespielt, fast ein bisschen auf Krawall gebürstet, dass nicht nur spannende, nervös voranstürmende Musik entstand, sondern es stellte sich auch ein Stück übergreifender Nebeneffekt ein: Fredric Rzewskis "Dreams II" verloren ihren befürchteten Schrecken, weil sie wie eine Erleichterung einsetzten.
Denn Rzewski arbeitet im ersten Satz ("Bells") zunächst mit leisen Akkorden und vielen Pausen, als müsse sich die Musik erst finden, um in meditative Schwingungen zu geraten. Mit einem schnellen, technisch höchst anspruchsvollen Tremolo, bei dem sich die Finger beider Hände gegenseitig im Weg zu stehen scheinen, beginnt "Fireflies". Amerikanische "Glühwürmchen scheinen ein Flutlichtein gebaut zu haben, denn es geht schnell zur Sache, und es gilt, kleine Melodiefetzen aus diesem Getümmel herauszuarbeiten - ein Verfahren, mit dem Rzewski den Melodien suchenden Zuhörer zwar bedient, aber auch ständig in die Irre führt. "Ruins" ist der klangmächtigste Satz und vielleicht auch der schwierigste, der den Geist eine hochromantischen Postmoderne atmet. Der letzte Satz ist der schönste. Hier verarbeitet Rzewski das kleine Kinderlied "Wake up!" von Woody Guthrie, führt die Melodie aus zwei Tönen in gefühlten 85 Variationen in eine spannende Auseinandersetzung aus Ausformulierung und Vortrieb - und gibt das (fast) letzte Wort dem Interpreten: In einer Ad-libitum-Improvisation durchleuchtete Igor Levit im hohen Diskant des Klaviers wie mit einem Glockenspiel die charmanten Seiten des Liedes.
Im tiefsten Grunde Romantiker
In der Rhein-Neckar-Zeitung war nach Igor Levits Uraufführung der "Dreams II" zu lesen: "... verdichtet sich der Eindruck, dass hier zwei musikalische Ironmen ihre Muskeln spielen lassen: Gegen das Bild einer pianistischen Muckibude konnte man sich kaum wehren." Wenn Levit seine Interpretation seitdem nicht deutlich verändert hat, ist das eine erstaunliche Beobachtung. Denn es sind ja eigentlich die leisen Töne, die kreativen Pausen, die im Vordergrund der Erinnerung bleiben. Das ist ja eigentlich das Überraschende an diesem Werk, dass es zwar, was ja nichts Ungewöhnliches ist, (laut)starke Phasen hat. Aber man wird da den Eindruck nicht los, dass Rzewski in seinem tiefsten Grunde ein Romantiker ist, der sich dagegen wehrt, einer zu sein, weil das Alltagsleben, aus dem er seine Musik schöpft, auch nicht so romantisch ist, wie es gerne wäre oder sein sollte. Derartige Positionen zu beleuchten ist eine Leistung des Pianisten, die mit Kraft alleine nicht zu erbringen ist. Da helfen auch keine Pillen. Was da hilft, sind die essentielle Durchdringung dieser Musik und die mitunter etwas selbstquälerische Bereitschaft, diese Durchdringung umzusetzen.Und dann also noch die "Goldberg-Variationen": eine Stunde Gelegenheit, hochvirtuose Musik zu hören, und alle Zeit der Welt, um sich darüber Gedanken zu machen. Einer der ersten: Gut, dass Igor Levit nicht auf dem Cembalo spielte, sondern auf einem modernen Flügel. Sicher, auf einem zweimanualigen Cembalo sind manche Stellen leichter zu bewältigen als auf dem einen Manual des Flügels. Aber wie stellte der englische Dirigent Sir Thomas Beecham vielleicht etwas drastisch fest: "The sound of a harpsichord - two skeletons copulating on a tin roof in a thunderstorm." Einer Stunde Liebesspiel auf dem Wellblechdach zu lauschen wäre tatsächlich ziemlich ernüchternd gewesen. So konnte Igor Levit mit höchst differenzierten Klangfarben und Anschlagsnuancen gestalten und strukturieren und die Neugier wach halten. Da war zum andern die nicht überraschende, aber doch immer wieder erstaunliche Beobachtung der technischen Souveränität und des enormen Fingergedächtnisses des Pianisten, der auch in den turbulentesten Variationen nicht einen Moment des Zögerns hatte, der auch noch nach einer Stunde mit vollem Risiko spielen konnte.
Mit persönlicher Handschrift
Aber da war vor allem die gestalterische Potenz des jungen Mannes, der die Schönheit dieser eigentlich doch recht konstruierten Musik zeigte, der ihr seine persönliche Handschrift gab und der zeigte, dass die 30 Variationen nicht beliebig oder beliebig austauschbar sind, sondern dass sie aufeinander verweisen, dass sie einen durchgehenden Bogen spannen, bis die Aria zum Schluss den erlösenden Kreis zum Anfang schließt. So ließ er seinem Publikum keine Möglichkeit, sich auch nur vorübergehend auszuklinken: Man hätte zuviel verpasst.Es war geradezu beruhigend, weil es etwas so Menschliches hatte: Am Ende war auch Igor Levit total geschafft. An eine Zugabe war nicht mehr zu denken; sie wäre auch unsinnig gewesen. Außerdem musste sich der Pianist eingestehen, gescheitert zu sein: Der Graf Keyserlinck hatte seinerzeit die Goldberg-Variationen bei Bach bestellt, um seiner Schlaflosigkeit Herr zu werden. Aber im Rossini-Saal hat's nicht gewirkt, da ist niemand eingeschlafen.
Anders wäre der frenetische Beifall auch nicht zu erklären.
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