Selten hat ein Produkt so viel über seinen Verkäufer erzählt wie die Kakaobohne über Arno Wielgoss. „Herb“ denkt sich, wer die Bohne das erste Mal im Rohzustand genießt, „bitter“ urteilt, wer zum ersten Mal von jenem Schicksalsschlag erfährt, der die Weichen in Arno Wielgoss‘ Leben stellte. Kaut man länger, setzt der unverfälschte Kakaogeschmack ein. Blickt man tiefer, macht sich dieses Gefühl breit, dass Geschäftsmann- und Geschäftsmodell echt sind.
Die Geschichte beginnt im Jahr 2000, als der damals 18-jährige Arno Wielgoss aus Nüdlingen (Lkr. Bad Kissingen) traurige Gewissheit erhält: Sein zwei Jahre älterer Bruder Frederic ist in Peru beim Baden im Urwaldfluss Urubamba von einem Strudel erfasst worden und ertrunken. Vermisst heißt es offiziell. Denn sowohl die aufwendigen Suchmaßnahmen des Konsulats als auch die Reise seiner Eltern, Gerhard und Françoise Wielgoss, an die Unglücksstelle sind ergebnislos geblieben.
Arno glaubte bis zuletzt an die Rückkehr seines Bruders
Arno hatte bis zuletzt geglaubt, dass Frederic zurückkehren würde. Als die Eltern ohne den Bruder vor ihm stehen, reißt es ihm im Elternhaus den Boden weg unter seinen Füßen. Fast 16 Jahre später steht er an derselben Stelle. Mit beiden Beinen fest auf der Erde. Arno Wielgoss – Entwicklungshelfer, Ameisenforscher, Unternehmensgründer, frisch gebackener Vater. „Ja, krass“, sagt er, „wie so ein Schicksalsschlag Weichen umstellen kann“.
Die ersten Monate nach dem Unfall funktionierte der 18-Jährige einfach. Lernte für Prüfungen, organisierte Kollegstufenfeiern, bestand das Abitur. Noch am Tag der Zeugnisübergabe stieg er in ein Flugzeug nach Peru. „Ich wollte sehen, wo Frederic seine letzten Tage verbracht hat.“ Die Reise veränderte alles. Wielgoss lernte in Peru Entwicklungshelfer Alois Kennerknecht kennen und entschied nach einem Tag: „Hier bleib ich für ein Jahr!“ „Unterschreib nichts, wir kommen“, warnten die besorgten Eltern am Telefon. Auch sie hatten in Peru noch eine Mission.
Die restlichen Spenden kamen den Menschen in der Region zugute
Freunde, Verwandte und Bekannte in Deutschland hatten nach Frederics Verschwinden einen Spendenaufruf initiiert, um beim Aufbringen der Kosten für die aufwendige Suchaktion zu helfen. Als die gespendeten Gelder die Kosten überschritten, entschieden die Eltern, mit dem Geld den Menschen in der Region des Urubambatals zu helfen. Während der Suche nach ihrem Sohn hatten sie dort in einem Gesundheitszentrum übernachtet und mitbekommen, wie ein Baby bei Kerzenschein behandelt wurde. „Das muss doch nicht sein“, dachte Vater Gerhard Wielgoss, gelernter Elektroingenieur und Berufsschullehrer. Wieder in Deutschland, gründeten sie den gemeinnützigen Verein „Frederic – Hilfe für Peru e.V.“ und kauften von einem Teil der Spendengelder eine Solaranlage.
Die Solaranlage schleppten sie dann in jenem Sommer 2001 den peruanischen Berg hinauf zum Gesundheitszentrum und installierten sie auf dem Dach. „Sie läuft noch heute einwandfrei.“ Am Ende der Reise war klar: Arno bleibt in Peru. Zehn Monate arbeitete er mit Entwicklungshelfer Kennerknecht.
„Du hast zwei Möglichkeiten, wenn du so direkt mit dem Schicksal und Leben von Menschen konfrontiert bist. Entweder du verschließt die Augen und rennst weg – oder du hilfst.“ Familie Wielgoss hatte ihre Wahl längst getroffen. Arno entschied sich für ein Studium der tropischen Biologie in Würzburg, in den Ferien unterstützte er über Monate die Projekte der Eltern in Peru. Die wiederum hatten sich entschlossen, es nicht bei der einmaligen Hilfsaktion zu belassen.
Eigentlich Entwicklungshilfe-Laien, leisteten sie auf ehrenamtlicher Basis die folgenden 16 Jahre mit dem Verein „Frederic-Hilfe für Peru“ Enormes. Die Bilanz des Vereinswirkens alleine könnte Seiten füllen. Über Investitionen in Bildung würde man dort lesen, über ein entwickeltes Kleinkreditsystem, über Gesundheits- und ökologische Landwirtschaftsprojekte, Frauenrunden und Gemüsegärten. Erfolg hat der Verein laut Arno Wielgoss vor allem deshalb, weil die Familie, wie er sagt, „nie Geld aus der Hand gibt“ und immer „die Themen aufgreift, die den Leuten vor Ort am Herzen liegen“.
Hauptproblem: Kakaobauern bekommen zu wenig Geld für ihr Produkt
Dennoch. Irgendwann reifte bei Arno Wielgoss die Erkenntnis: „Entwicklungshilfe dank Spendengelder aus Deutschland – schön und sinnvoll. Am Grundproblem aber ändert es nichts: Die Leute im Urubambatal bekommen einfach einen viel zu schlechten Preis für eine ihrer Haupteinnahmequellen, den Kakao.“ Das wollte er ändern.
So ergriff die Kakaobohne nach und nach Besitz von Arno Wielgoss‘ Leben. Dieses runzlige Ding, das im Rohzustand herb und bitter schmeckt und die Süße der Schokolade nicht einmal erahnen lässt. Jene Kakaobohne, der man unter dem Trendbegriff „Superfood“ viele positive Eigenschaften nachsagt, unter anderem dass ihr Verzehr glücklich macht, den Blutdruck senkt und Krebserkrankungen vorbeugt, sie bereitete Wielgoss über Jahre vor allem eines: Kopfzerbrechen.
Über verschiedene Vereinsprojekte hatte er seit rund zehn Jahren mit den Kakao-Bauern im Tal geackert und die Umstellung auf ökologische Landwirtschaft forciert. „Jetzt brannten sie die Wälder nicht mehr ab, achteten auf die Böden, legten Mischkulturen an, förderten die Biodiversität. Jetzt wollte ich, dass sie auch einen guten Preis bekommen.
“ In der Hoffnung, dass Zertifizierungen von sich aus zu besseren Preisen führen, sollte der ökologisch angebaute Kakao Fairtrade- und Bio-Siegel erhalten. Was nach Formalie klingt, war ein zweieinhalb Jahre währender Kampf: „Wir mussten alles komplett neu aufziehen. Brutale Überzeugungsarbeit leisten. Flächen vermessen. Bäume zählen. Chemische Proben nehmen. Die Vielfalt an kleinteiliger Landwirtschaft in Excel-Tabellen pressen.“
2013 bekamen sie die Siegel
Selbst Arno Wielgoss' Hochzeitsreise fiel der Zertifizierung zum Opfer. Weil die so viel Zeit kostete, nahm er Ehefrau Christine kurzerhand mit nach Peru, wo sie immerhin die Nächte mit ihm, seinen Eltern, einem Freiwilligen, Ratten und Kakerlaken im Stockbett verbrachte. 2013 erhielt die Kooperative endlich die Siegel, die Bestpreise allerdings ließen auf sich warten.
„Lass es uns in die eigene Hand nehmen“, schlug irgendwann Arnos Kollegin Frauke Fischer, Tropenökologin an der Uni Würzburg, vor. Mit ihr teilte sich Wielgoss ein Büro während seiner Promotion. Der Biologe forschte – wie hätte es anders sein sollen – über das Thema Kakao, genauer über den Einfluss von Ameisenpopulationen auf den Kakaoertrag. Weil Wissenschaft am Ende doch immer „in der Theorie bleibt“, entschied sich der promovierte Biologe letztlich für die Wirtschaft und eine Unternehmensgründung.
Seine Kollegin Frauke Fischer beließ es nicht bei guten Ratschlägen, sondern stieg selbst mit ein. 2015 gründeten die beiden die GmbH Perú Puro. Statt weiterhin einen Käufer zu suchen, der einen guten Kakao-Preis zahlt, tun sie das nun einfach selbst. Sie nahmen einen Privatkredit auf, kauften erst 500 Kilo, dann fünf Tonnen Spitzenkakao der Kooperative zu Bestpreisen. Und übten sich im Rösten. Ein Jahr hat es gedauert, bis ihr Produkt – Kakaobohnen in Rohform und geröstet, Kakao-Nibs und Kakao-Tee – marktreif war.
Seit Februar gibt es die 100 Gramm-Packungen – empfohlen wird der Verzehr der Bohnen beispielsweise zu Wein, Whiskey, im Müsli oder einfach als Fingerfood – bislang vor allem in Eine-Welt-, Bio- und Gourmetfachgeschäften sowie online zu kaufen.
Beim Voting für den Gründerpreis landete die Firma auf Platz zwei
Noch steckt die Vermarktung in den Kinderschuhen. Wielgoss beunruhigt das nicht. Im Juni hat seine Firma beim Voting für den Gründerpreis der Stadt Würzburg den zweiten Platz geholt. Diesen Sommer hat er bei einer wissenschaftlichen Konferenz in Peru für ihn Entscheidendes erfahren: „Unser Kakao Chuncho ist der Urkakao von dem alle Kakaosorten der Erde abstammen. Unser Urubambatal ist die Wiege des Kakaos.“ Zu dieser Erkenntnis sei der Genetiker Thomas Evert gelangt. Noch seien diese Ergebnisse nur in einer Voruntersuchung veröffentlicht. „Bei der Brisanz kann es aber nicht mehr lange dauern“, ist Wielgoss überzeugt. „Jetzt sind alle scharf auf unseren Kakao Chuncho, jetzt geht es erst richtig los.“
Arno Wielgoss' Familiengeschichte mag lang sein, seine Firma steht ganz am Anfang.