
Ist das Kunst, oder kann das weg? Diese Frage hat sich doch jeder schon mal beim Anblick – nicht selten äußerst teuer gehandelter – Kunstwerke gestellt. Und mit genau so einem Gedanken beginnt das Drama „Kunst“. Yvan, der mitten in den Vorbereitungen für seine Hochzeit steckt und mit dem Wirrwarr sozialer Beziehungen zwischen den beiden Familien, insbesondere den Eltern, sichtlich überfordert ist, gilt als tolerant. „Auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen der schlimmste Fehler überhaupt”, wie Marc im ankündigenden Monolog dem Publikum erläutert.
Als Yvan zu erklären versucht, dass er kein Problem in Serges Kauf des Gemäldes sieht – ein „weißes Bild mit weißen Streifen“, das stolze 200.000 Francs gekostet hat –, weil er damit niemandem schade, stellt der egozentrische Marc den Ursprung seines Grolls zur Schau. „Aber es schadet anderen. Es stört mich in meiner Ruhe“, drängt er Yvan dazu, seine Position zu unterstützen.
Zwischen Inkompetenz und Intoleranz
So stehen sie sich gegenüber. Hier der wohlsituierte Serge, der seit seiner „Entheiratung“ zunehmend der Kunst frönt und sich mit seinem „Andrios“ offenbar einfach einen lang gehegten Wunsch erfüllt hat, kann nicht verstehen, dass sein Freund Marc seine Begeisterung nicht teilen kann, was er sogleich als Inkompetenz identifiziert, wenn er darüber her- zieht, dass Marc „keine Ahnung von Kunst“ habe.
Dort der glücklich vergebene Marc, der ein pragmatisches Verhältnis zur Kunst pflegt, sich wenig Gedanken über die künstlerische Aussage des unheimlich anmutenden Gemäldes eines katholischen Geistlichen aus Bayern über seinem Kaminsims macht und sich schon durch die Verwendung nicht alltäglichen Vokabulars durch seinen Freund genervt und persönlich angegriffen fühlt.
Mittendrin der gestresste Yvan, der neben seinen beruflichen Problemen sowie seiner grundlegenden inneren Unsicherheit auch mit seiner von ihm selbst von ganzem Herzen gehassten Stiefmutter – welche aber dennoch zur Hochzeit kommen soll, weil sein Vater sonst nicht kommt, durch ihre Anwesenheit jedoch seine eigene Mutter dazu zwingt, ihre Teilnahme an der Hochzeit abzusagen – schon zur Genüge zu kämpfen hat und sich dennoch die Zeit für den Versuch nimmt, zwischen seinen beiden alten Freunden zu vermitteln. Ausgerechnet Letzterer ist es, der zu Boden geht, als Marc eigentlich auf Serge losgehen will, nachdem dieser seine Freundin als hässlich, runzlig und reizlos bezeichnet, ihr ein kaltes, herablassendes und der Welt gegenüber verschlossenes Naturell unterstellt hat und sich beharrlich weigert, dies zurück zu nehmen.
Neustart mit einem symbolischen Akt
Sprichwörtlich am Boden liegend, realisierend, wie weit sie gegangen sind, beschließen die drei Männer, einen Neustart zu wagen. In einem symbolischen Akt – bezeugend, dass die Männerfreundschaft ihm mehr bedeutet als sein wertvoller Andrios – reicht Serge Marc einen Filzstift, um das teure Bild zu bemalen. Marc erwidert die beschwichtigende Geste, indem er Serge später hilft, das Gemälde wieder zu reinigen.
Auf Marcs erstaunte Frage, ob er gedacht hätte, dass man Filzstift mit den richtigen Reinigungsmitteln von einem Ölgemälde entfernen könne, antwortet Serge „Nein“, um im darauf folgenden Monolog dem Publikum zu erklären, dass er es selbstverständlich gewusst habe und damit seinen symbolischen Akt der Zerstörung als wohlkalkulierten strategischen Zug entlarvt.
Kunst wirft Fragen auf
Es liegt in der Natur der Kunst, dass jeder etwas anderes in sie hineininterpretiert. Kunst, sei es ein Gemälde, ein Film, Musik oder auch ein Theaterstück, wirft in jedem Fall immer Fragen auf. So auch das Drama „Kunst.“ Sind wir immer so fähig, einen objektiven Diskurs zu führen, wie wir es von uns selbst glauben? Dreht es sich in einem Streit tatsächlich immer um das Thema, über das wir vorgeblich streiten? Was ist Freundschaft? Muss Freundschaft bedingungslos sein? Und wo verläuft der Grat zwischen einer legitimen Notlüge und einem gefälschten Fundament des Vertrauens?
Fragen, die man sich stellen kann, vielleicht sogar muss. Bezugnehmend auf die unter Dirk Hönerlages Leitung insgesamt sehr gelungene, kurzweilige Inszenierung durch die ehemaligen Mitglieder der Schulspielgruppe Kompassion stellt sich höchstens die Frage, ob man sich immer starr an die Originalvorlage halten muss. Autorin Yasmina Reza schrieb das Stück in den 90er Jahren. Doch die meisten Personen, die heute durch die Aula des Schulgebäudes laufen, in der das Stück aufgeführt wurde, können sich unter 200.000 Francs überhaupt keinen Wert vorstellen, waren sie doch noch nicht einmal geboren, als man sein Croissant in Paris zuletzt mit Francs bezahlt hat.


