Die Zerstörungskraft der menschengemachten Atombomben führten nach dem Abwurf auf Hiroshima im August 1945 klar vor Augen, dass die Menschheit sich mit diesen angeblichen "Wunderwaffen" selbst vernichten kann. Diese Gefahr ist leider nicht vorüber; noch immer drohen mehr oder weniger psychisch labile Machthaber mit ihrem Einsatz. Friedrich Dürrenmatt nahm 1962 in seiner politischen Kriminalkomödie "Die Physiker" diese Gruppe von Naturwissenschaftlern ins Visier und zeigt das Entsetzen eines genialen Physikers, der sich den Folgen seines Forschens stellen will, und der deshalb aussteigen möchte, um nicht schuldig werden zu müssen. Aber auch sein Untertauchen in einem Irrenhaus und die Vernichtung seiner Schriften nützen nichts, denn das Gedachte lässt sich nicht zurücknehmen.
Anhand dreier Irrenhausinsassen lässt Dürrenmatt die Geschichte menschlichen Denkens aufscheinen, vom "Weisen König Salomo " in der Bibel über Isaac Newton , den Begründer der neuzeitlichen Naturwissenschaften , und Albert Einstein , den genialsten Physiker des 20. Jahrhunderts, dessen Forschungsergebnisse erst in unseren Tagen durch Versuche bestätigt werden, erinnert er daran, dass Forscher den Weg der Menschheit begleitet und beeinflusst haben.
Alle drei Patienten in der Physikerabteilung im Sanatorium der Mathilde von Zahnd sind nicht verrückt, vielmehr als Geheimdienstler hinter Möbius' Erkenntnissen her, vor denen er selbst die Menschheit durch seinen Rückzug ins Irrenhaus schützen will. Ausgetrickst werden alle drei von der machtgeilen einzigen Wahnsinnigen, die sich schon längst dieses Wissens bemächtigt hat und es zu ihrer Bereicherung in einem Weltkonzern vermarktet.
All diese einer Tragödie näher liegenden Begebnisse beginnen in Dürrenmatts Komödie durchaus heiter: mit dem vom Publikum fröhlich belachten Frust von Mordkommissar Richard Voß (nicht so ganz wirklich in seiner Rolle: Christian A. Hoelzke), der zum zweiten Mal einen Mord im Nobelsanatorium aufklären soll und von Oberschwester Marta Boll (Sibylla Rasmussen sehr zackig) und Klinikleiterin von Zahnd über seine Ohnmacht gegenüber den nicht straffähigen Herren aufgeklärt wird: einem "Newton, der sich eigentlich für Einstein hält" (André Vetters als geschmeidig-schlaksig selbstgefällig in sich ruhender Forscher aus Vergnügen am Denken), "Einstein, der sich ebenfalls für Einstein hält" (Stephan Bürgi als wuschelköpfiges Energiepaket mit viel Ähnlichkeit zu seinem historischen Vorbild) und Möbius, dem angeblich "der König Salomon erscheint und ihm seine genialen Einfälle diktiert" (Peter Bause zwischen ruhig seine Camouflage ausspielendem, vom Liebesansinnen seiner Krankenschwester überfordertem, aber auch eloquent seine Position als Verantwortungsträger gegenüber den Kollegen vertretendem Physiker).
Regisseur Herbert Olschok hat die komödiantischen Möglichkeiten dieses ersten Teils zum Vergnügen der Zuschauer ausspielen lassen. Das befremdliche Auftreten von Möbius' Frau, jetzt Frau Missionar Lina Rose (Regula Steiner-Tomic etwas blass in der Mischung aus Selbstgerechtigkeit und schlechtem Gewissen der Gestalt), die mitsamt der drei Söhne und ihrem neuen Mann auf dem Weg zu den Marianen vorbeischaut, hat er dankenswerterweise nicht ausspielen lassen, sondern mithilfe von Portraits und Tonbandaufnahme geschickt gekürzt.
Peter Bauses großer Auftritt als vom König Salomon Besessener wird trotzdem genügend motiviert, der für den Zuschauer an dieser Stelle klar werdende plötzliche Umschlag vom tobenden Verrückten in den friedfertigen und freundlichen Insassen Möbius genügend deutlich. Im perfekt strukturierten Drama folgt nun Möbius' Mord an seiner Krankenschwester (Tina Rottensteiner sehr frisch und emotional engagiert als Liebende, die den sehr viel älteren zögerlichen Geliebten zu animieren versucht), die den dritten Mord provoziert, da mit ihrer Liebeserklärung Möbius' Täuschung als Irrer aufzufliegen droht, und damit die Krimihandlung abschließt.
Eine gute Regieidee zu Beginn des 2. Teils war es, den Oberpfleger Uwe Sievers nicht als furchteinflößendes Muskelpaket auftreten zu lassen, sondern von Raimond Knoll (sehr präzise und unaufgeregt) zeigen zu lassen, dass sich auch Pfleger durchaus vor den drei Physiker-Mördern fürchten können. Deren Hervortreten aus der Verstellung wurde von den drei Herren überzeugend dargestellt, auch das Zögern angesichts des Druckes ihrer Auftraggeber und ihre Zustimmung zu Möbius' Dreier-Verweigerungshaltung zur Rettung der Welt.
Doch ihre Einsichtigkeit ist sinnlos; es übernimmt die Irrenärztin. Hellena Büttner ließ sich für ihre große Enthüllung als Mathilde von Zahnd Zeit, verzögerte geschickt ihre Wahnsinnsszene und ihre allmähliche Verwandlung von der Ärztin im weißen Kittel in die stilvoll und eindrucksvoll gewande(l)te Besitzerin des weltbeherrschenden Konzerns, die ihren Patienten Möbius jahrelang ausgebeutet hat. In großer Texttreue kamen am Ende die Selbstvorstellungen der drei Physiker und die erschütternde Einsicht in die Nicht-Zurücknehmbarkeit des einmal Gedachten, auch nicht der Konsequenzen der Eingriffe der Menschheit in das Lebenssystem Erde, wie wir am Anfang des 21. Jahrhunderts mitdenken.
Die Zuschauer waren absolut begeistert von dieser stilistisch, auch beim Bühnenbild von Alexander Martynow, weitgehend in der Entstehungszeit des Stückes verhafteten Inszenierung. Für die neun Schauspieler , die Protagonisten, allen voran die beiden zum Urgestein deutscher Schauspielkunst gehörenden Peter Bause und Ellena Büttner, die schon oft beim Theaterring gastierten, gab es immer wieder Bravos vom vollbesetzten Haus.