Es war eine Brückenauer Besonderheit: Alljährlich zogen viele vor allem junge Leute an Heiligabend nach Christmette , Festtagsessen und Bescherung nochmal los, um in den „Club“ zu gehen. Der „Club“, das war die Kultkneipe „Tangente“. Dort feierten die Besucher keine wilde Weihnachts-Party bei lauter Musik, sondern saßen gemütlich zusammen, unterhielten sich. Die Tradition endete 2011. Heuer am 24. Dezember stieg im Gasthof zum Stern die „Christmas After Hour“. Lebt der Geist der Tangente wieder auf?
Um zu verstehen, worum es geht, muss man fast ein Vierteljahrhundert zurückblicken. Am 10. Oktober 1975 eröffnete in der Kissinger Straße der „Club Tangente“. Inhaberin Helga Zirkel hielt das Konzept von Anfang an offen, sah die Tangente nicht ausschließlich als Kneipe, sondern auch als Jugendclub-Ersatz.
Abgefahrene Idee mit Carrera-Bahn
So sollten unter anderem die „Mauerkinder“, die an der damaligen Befestigung am Marktplatz herumlungerten und in anderen Lokalitäten unerwünscht waren, einen Treffpunkt erhalten. „Man konnte sich auch reinsetzen und auch mal nichts trinken“, erinnert sich Zirkels Sohn Matthias Lother, selbst mit der Tangente auf- und lange verwachsen.
So verwunderte die Idee eines Gastes nicht mehr so sehr, in dem langgezogenen Gebäude eine Riesen-Carrera-Bahn zu installieren – und zwar, indem die Gäste Einzelteile ihrer eigenen Bahnen mitbrachten und zu einer gewaltigen Rennstrecke zusammensteckten. So konnten sie ihre Miniatur-Elektroautos ewig fahren lassen.
An Heiligabend war weggehen unüblich
Aber warum gerade an Heiligabend ? Matthias Zirkel erklärt das damit, dass zu anderen Zeiten die Räume anderweitig gebraucht wurden, zum Beispiel für den Kneipenbetrieb. So aber hieß es: am Nachmittag Carrera-Bahn aufbauen, dann in die Christmette und nach der Kirche in die Tangente zum Autorennen fahren.
Damals war es zumindest auf dem Land unüblich und für manche Eltern ein Sakrileg, am Heiligabend noch einmal auszugehen. Weihnachten gehörte der Familie. Doch wie Matthias Lother berichtet, war das bei der Tangente kein so großes Problem. Da tauchten die Kinder der Pfarrer auf, die vorher den Gottesdienst gehalten hatten.
Club für Kirchgänger geöffnet
Helga Zirkel öffnete den Club auch stets um 22.30 Uhr, damit die Kirchgänger ja nicht vor verschlossenen Türen ausharren mussten.
Die Idee mit der Carrera-Bahn taugte nur wenige Jahre. Danach kamen die Leute einfach so zusammen, zu einem „netten Abend, um sich in Ruhe zu unterhalten“, wie Matthias Lother es ausdrückt. Im Hintergrund lief dezent Musik; zu trinken gab es, zu essen nicht.
Ende der Tangente nahte 2009
Der Treff etablierte sich über die Jahre, wurde zur Institution. Und war stets gut besucht, wie Lother, selbst jahrelang Mitbetreiber, sich erinnert (in die Tangente passen bis zu 250 Gäste).
Doch dann nahte das Ende. 2009 schloss Helga Zirkel den Club schweren Herzens. Die traditionelle Weihnachtsfeier setzte den Schlusspunkt. Vorläufig.
Konrad Lother startete neuen Versuch
Denn Enkel Konrad Lother machte nach einer mehrmonatigen Pause weiter. Das Heiligabend-Treffen 2010 sollte der Start in eine glänzende Zukunft werden.
Und es ließ sich gut an. Die Tangente war stets voll, zog aber auch problematisches Klientel und Konflikte an, inklusive Besuche der Polizei . Aus der Sommerpause des Jahres 2011 kehrte die Tangente nicht mehr zurück.
Danach war es schwer, das weihnachtliche Kulttreffen zu erneuern. Der frühere Stadtrat Benjamin Wildenauer berichtet von Versuchen im damals im Keller des Ankenbrand-Hauses (früheres Gymnasium) untergebrachten Jugendzentrum. Oder zuletzt von Veranstaltungen in der Gaststätte am Siebener-Park.
Idee eines Revivals im Gasthof Zum Stern
Vergessen wurden die schönen (Heilig)Abende in der Tangente indes von manchen nie. Und so kam eine Freundin samt ihren Bekannten auf den bekannten Bad Brückenauer Dirk Stumpe – selbst einst Stammgast in der Kissinger Straße – mit einer Revival-Idee zu: Ein Abend, um sich mit Freunden und Bekannten zu treffen, die man wegen Studium, Beruf und Ähnlichem lange aus den Augen verloren hatte, sollte es werden.
Ein paar Stunden wie damals im „Club“, als die Uhr wirklich langsamer zu gehen schien. „Für viele von uns war es die zweite Bescherung des Abends und es gab viele glückliche Gesichter“, erinnert sich Stumpe an die Tangente-Zeit.
Stern-Wirt kann sich Wiederholung vorstellen
Da die Kultkneipe nicht auf die Schnelle zu reaktivieren war, wandten sich die Drei an Lajos Mészáros und sein Team vom Gasthof Zum Stern in der Altstadt. Der machte sofort mit. Und so öffnete der Stern am Heiligabend ab 23 Uhr für einen ruhigen gemütlichen Abend in uriger Atmosphäre, ohne Party und Essen, nur mit Getränken und Hintergrundmusik. Das Angebot wurde sehr gut angenommen, bestätigen mehrere Gäste. So gut, dass sich Mészáros eine Wiederholung 2024 gut vorstellen kann.
Für Matthias Lother hat das Treffen im Stern keinen direkten Bezug zur Tangente. Er war selbst nicht dort, gab der Familie den Vorzug. Aber es gibt zweifelsohne Parallelen. Die Startzeit circa 23 Uhr, das Ende um 3 Uhr. Die gemütliche Atmosphäre. Kein Essen, aber trinken. Und sicher waren viele der früheren Tangente-Stammgäste diesmal auch im Gasthof Zum Stern.
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