Beinahe hätten die weitgereisten Gäste die Messing-Steine im Pflaster übersehen. Wären achtlos darüber hinweggegangen. Und hätten damit den Hinweis auf den Lebensort ihrer Vorfahren in der Bad Brückenauer Unterhainstraße 25 gar nicht wahrgenommen. Doch dann fiel die Aufmerksamkeit der Amerikaner doch auf die Stolpersteine - für die Familie Goldschmidt.
Im Alter von 79 Jahren hat sich Eve Mannes aus Atlanta/Georgia doch noch über den „Großen Teich" aufgemacht, um die Wurzeln ihrer Mutter Elise, der Großeltern Max und Sybilla Goldschmidt sowie ihres Onkels Ludwig zu erkunden. Nie zuvor war sie in Deutschland, geschweige denn in Bad Brückenau. Begleitet wurde Mannes von ihrem Mann Harvey, Sohn Keith, Schwiegertochter Catherine Dekle sowie den Enkelinnen Clara und Sophie Mannes.
Corona verhinderte Besuch vor vier Jahren
Schon einmal hatten die Mannes' nach Bad Brückenau kommen wollen, zur dritten Stolpersteinverlegung 2020, bei der auch drei im Holocaust umgekommene Mitglieder der Goldschmidt-Familie gewürdigt wurden. Die Corona-Pandemie verhinderte diese Reise. Nun, vier Jahre später, klappte es.
Den Besuch der Amerikaner bestens vorbereitet hatten der ehemalige Gymnasiallehrer Dirk Hönerlage sowie die ehemaligen Schüler Felix Opitz und Christina Stretz, alle drei vom Arbeitskreis Stolpersteine. Sie zeigten ihren Gästen jene Orte, an denen die Goldschmidts in Brückenau gelebt hatten.
Das Wohn- und Geschäftshaus in der Unterhainstraße, wo Max Goldschmidt (1892 bis 1941) und Ehefrau Sybilla (1891 bis 1941) mit ihren Kindern Elise (1920 bis 1998) und Ludwig (1923 bis 1941) bis Anfang 1939 wohnten und ihre Geschäft für Tapeten, Farben und Lacke, aber auch für Kolonialwaren und Fisch führten. Die Reste der Synagoge, wo Max Goldschmidt sehr aktiv war.
Sechs Goldschmidt-Generationen
Den Koffer des Denkorts Deportationen und das Kriegerdenkmal, auf dem Max' Bruder Emil Goldschmidt als Gefallener des Ersten Weltkriegs aufgeführt ist. Und schließlich der jüdische Friedhof in der Leimbachstraße, auf dem die Urahnen Leopold (1863 bis 1931) und Thirza Goldschmidt (1866 bis 1925) liegen.
Sie hatten noch vor der Wende zum 20. Jahrhundert durch ihren Zuzug die Brückenauer Episode der Familie begründet. Zwischen ihnen und Clara und Sophie Mannes liegen vier Goldschmidt-Generationen.
Zwiespältige Gefühle bei Eve Mannes
Bei Eve Mannes löste der Besuch in der Heimat ihrer Mutter Elise zwiespältige Gefühle aus. Einerseits freute sich die 79-Jährige sehr, Spuren ihrer Vorfahren „im wunderschönen und interessanten Bad Brückenau zu sehen" und dass es ein Denkmal für die Juden gibt. Andererseits war sie extrem traurig wegen dem Elend, das ihre Angehörigen durchleiden mussten.
Das Schicksal von Max, Sybilla und Ludwig Goldschmidt ist vergleichsweise gut dokumentiert. Im Februar 1939 siedelte die gesamte Familie - nachdem sie ihren Besitz im Rhönstädtchen verkauft hatte - nach Frankfurt/Main über. Tochter Elise gelang es, allein über London in die Vereinigten Staaten von Amerika zu kommen.
Flucht nach Palästina oder Kuba misslang
Der Rest der Familie wollte offensichtlich nach Palästina auswandern - was misslang. Ebenso eine angestrebte Flut nach Kuba. Max, Sybilla und Ludwig Goldschmidt wurden am 22. November 1941 von den Nazis in den damals unter deutscher Herrschaft stehenden Osten Europas deportiert. Drei Tage später wurden sie in einer ehemaligen Festung nahe der litauischen Stadt Kowno (Kaunas) von der SS erschossen.
Eve Mannes Mutter Elise erzählte ihrer Tochter kaum etwas über ihre Flucht und die ermordeten Angehörigen. „Es war zu schmerzhaft", sagt diese.
Interviews mit Holocaust-Überlebenden
Genaueres erfuhr Eve über ein gefilmtes Interview, bei dem ihre Mutter ihr Herz öffnete. Im Nachgang zum berühmten Film „Schindlers Liste" initiierte Kultregisseur Steven Spielberg ein Projekt, das Berichte von Zeitzeugen des Holocaust dokumentierte. Dazu wurde 1994 die gemeinnützige „Survivors of the Shoah Visual History Foundation" gegründet.
Deren Mitarbeiter zeichneten die Schilderungen von mehr als 50.000 Überlebenden des Holocaust aus 56 Ländern in 32 Sprachen filmisch auf, um sie für nachfolgende Generationen zu bewahren. Elise Schapira (Nachname ihres zweiten Mannes) war dabei.
Für Urenkelinnen wird alles noch spürbarer
Ungewöhnlich war, dass mit Clara und Sophie Mannes auch die Urenkelinnen von Max und Sybilla Goldschmidt mit nach Bad Brückenau gekommen waren. Ist der Holocaust für die 20- und die 23-Jährige nicht viel zu weit weg?
Beide sind aufgewachsen im Bewusstsein des Schicksals ihrer Großmutter Elise, ihrem Bruder Ludwig und deren Eltern. Es sei wichtig, die Erinnerung an die Vorfahren zu bewahren, sagt Sophie Mannes. Es sei sehr besonders, selbst zu sehen, wo ihre Großmutter aufwuchs. Für Clara wurde spürbarer, was sie bisher nur von Fotos und aus Erzählungen kannte. Sie spricht etwas deutsch, gelernt in der Schule.
Im Goldenen Buch der Stadt verewigt
Die Goldschmidt-Nachkommen verewigten sich im Beisein des Stellvertretenden Bürgermeisters Jürgen Pfister auch im Goldenen Buch der Stadt Bad Brückenau.
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