
Beschaulich ist es auf dem Steinknorz. Die Rhöner Landschaft liegt den Bewohnern von Obergeiersnest zu Füßen. Trotzdem siedelten nie besonders viele Menschen auf dem 446 Meter hohen Geiersberg.
Auch nur wenige historische Daten finden sich über Obergeiersnest . Dennoch könnte der Weiler dieses Jahr 500 Jahre urkundliche Ersterwähnung feiern, obwohl es nur eine ungefähre erste Nennung gibt. Im Staatsarchiv Würzburg, Bestand Gericht Hammelburg 24/960, ist laut Kaspar Gartenhof "um 1520" die Rede von "zum Geiersnechst". Überprüfen lässt sich das heute nicht mehr, da die Akte im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurde.
Von "Geiersnechst" bis Ober-Geiersnest
In dem Büchlein "Die Ortsnamen des Landkreises Brückenau" hat Kaspar Gartenhof 16 Zeilen dem kleinen Weiler gewidmet. Im Laufe der Jahre änderte "Geiersnechst" öfters einen Namen, bis es um 1550 zum Ober-Geiersnest wurde, da seitdem auch von Untergeiersnest die Rede ist.
"Besonders windig" ist es dort oben, berichtet Richard Schäfer. Vor 83 Jahren wurde er in Obergeiersnest geboren, gleich nach der Schule kümmerte er sich um den elterlichen Hof. Sein aus Breitenbach stammender Ururgroßvater Johann war 1828 der erste der Familie Schäfer, der in Obergeiersnest Fuß fasste. Der Sohn des Vorbesitzers des Hofes hatte den Wagnerberuf ausgeübt. Auf ihn geht wohl der Hausname "Woanesch" zurück. Wie alle Höfe dort oben, hatten auch die "Woanesch" Vieh. Als letzter in Obergeiersnest musste Schäfer 2002 die Viehwirtschaft aufgeben. "Das war bitter", erinnert er sich.
Zusammenhalt sehr wichtig
Hart war bäuerliches Leben überall in der Rhön. Umso wichtiger war der Zusammenhalt, und auf den konnte man sich in Obergeiersnest verlassen. Als die Familie Schäfer 1966 die Scheune neu errichtete, "haben alle mitgeholfen", erinnert sich der rüstige Senior. An "runden Geburtstagen und Hochzeiten kommt das ganze Dorf zusammen". Auch heute ist die Hilfsbereitschaft unter den vier Nachbarn groß.
Wohl mit einem Hof hat es angefangen. Die Güterbeschreibung von 1675/76 lässt diesen Rückschluss zu. So lagen damals die Felder der Güter direkt nebeneinander, daher ist davon auszugehen, dass diese ursprünglich aus einem Gutshof hervorgegangen sind. In der sogenannten Uraufnahme von 1848 hatten diese vier Höfe zusammen eine Größe von 65 Hektar.
Dem Kloster Thulba unterstellt
Obergeiersnest gehörte schon immer zu Schönderling und war damit dem Kloster Thulba unterstellt, lag jedoch im Bereich des Gerichts Brückenau. Zu Zeiten des Bauernkrieges, also kurz nach der Ersterwähnung, sei Obergeiersnest wüst, also verlassen, gewesen. Weitere sechs Jahre später wird der Weiler wieder erwähnt. 1624 ist laut Kaspar Gartenhof in den Aufzeichnungen die Rede von einem Velten Brust, der "9 alte und 10 junge Schweine zur Eichelmast in den Forst treiben durfte". Er ist als erster Bewohner von Obergeiersnest "namentlich bekannt", schreibt Leonhard Rugel in "675 Jahre Schönderling". Dank der "Schondraer Kirchenbücher im Jahre 1665 ist die Entwicklung der Bevölkerungsbewegung lückenlos verfolgbar". Die ursprünglichen Siedler auf dem Geiersberg kamen aus umliegenden Orten, wie Schondra, Schönderling oder Brückenau.
"5 Familien mit 34 Seelen"
1675 werden wieder vier Hausbesitzer in Obergeiersnest genannt. Laut Volkszählung von 1785 lebten in Obergeiersnest "4 Familien mit 31 Seelen", 1858 "5 Familien mit 34 Seelen". Bestand Obergeiersnest jahrhundertelang aus nur vier Häusern , gesellte sich 1853 ein fünftes Haus hinzu. 1858 wurde ein Bildstock errichtet und feierlich eingeweiht.
Bisweilen werden die sonst nüchternen Aufzeichnungen recht detailliert. So wurde im Güterverzeichnis von 1675/76 vermerkt, dass es dem "Schoeze"-Hausbesitzer 1675 möglich gewesen sei, "7 Stück Vieh über den Winter" zu halten. Wer wann wie viel Grundfläche und welche Gebäude hatte, ist genau festgehalten. So dürfte wohl das "Degge"- oder "Dicke"-Anwesen 1850 als das mit über 20 Hektar verfügende größte Anwesen auf dem Geiersberg angesehen werden.
Erstes Backhaus 1850 erwähnt
Unbekannt ist, ob dieser Hausname von der landwirtschaftlichen Größe und dem Reichtum des Hofes herrührt, oder von der Leibesfülle dessen Besitzers. Das erste Backhaus in Obergeiersnest wird 1850 bei "Alte Wirts" erwähnt, dessen Besitzer Ende des 18. Jahrhunderts Wirt in Untergeiersnest war.
1929 wurden in Obergeiersnest sogar sieben Häuser gezählt, doch fielen in der Nacht auf den 12. September fünf Häuser einem "verheerenden Brand" zum Opfer. Des Weiteren wurden drei Scheunen und Nebengebäude zerstört. "Der Schaden wurde auf 80.000 Reichsmark beziffert", heißt es bei Rugel. Die alten Hausnamen, die im Grundsteuerkataster um 1850 auf dem Geiersberg die Hausnummern 21 bis 24 ¼ hatten, sind fast alle noch erhalten, nur "Statts" gibt es nicht mehr. Der Hof wurde 1963 abgerissen.
Pferde gezüchtet
Auf dem Degge-Hof werden heute Pferde gezüchtet, derzeit sind es 15. Wie in alten Zeiten sind heute vier Familien in Obergeiersnest gemeldet, insgesamt zwölf Seelen.
"Ob die Jugend bleibt? Das steht in den Sternen", blickt Richard Schäfer in eine unsichere Zukunft von Obergeiersnest . Sicher ist, dass der "Woanesch"-Hof nach 200 Jahren nicht in sechster Generation weitergeführt werden wird.