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Bad Kissingen
Die Nacht, als auch in Bad Kissingen die Synagoge brannte
In der Reichspogromnacht vor 80 Jahren ließen sich auch Bad Kissinger Bürger dazu hinreißen, mitzumachen, wie Hans-Jürgen Beck schilderte.
So sah der Blick von der Empore der jüdischen Synagoge in Bad Kissingen aus. Animation: Marc Grellert       -  So sah der Blick von der Empore der jüdischen Synagoge in Bad Kissingen aus. Animation: Marc Grellert
| So sah der Blick von der Empore der jüdischen Synagoge in Bad Kissingen aus. Animation: Marc Grellert
Thomas Ahnert
 |  aktualisiert: 18.08.2022 15:20 Uhr

Die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 war kein Ereignis, das aus dem Nichts über die jüdischen Gemeinden in Deutschland hereinbrach., Wie Hans-Jürgen Beck in seinem Vortrag "Die Nacht, als die Synagogen brannten" zum 80. Jahrestag der Pogromnacht erläuterte, gab es bereits vorher signifikante Hinweise, dass man in Kreisen der NSDAP bereits Mitte Oktober 1938 an eine größere antisemitische Aktion gedacht haben muss.

Wenige Wochen zuvor waren die Hauptsynagogen von München und Nürnberg zerstört worden. Aber auch in der Nähe schlug der braune Mob zu: Am 30. September zerschlugen und verbrannten etwa 50 Eindringlinge die gesamte Inneneinrichtung der Mellrichstädter Synagoge. Dann zogen sie plündernd durch die Straßen und schlug die Scheiben jüdischer Geschäfte und Wohnungen ein. Der Schreckenszug, den Reichspropagandaminister Joseph Goebbels als kollektive Vergeltung für das Attentat des 17-jährigen Herschel Grynszpan auf den deutschen Legationsrat Ernst vom Rath in Paris in Bewegung gesetzt hatte, hatte die Region erreicht.

Auch in Bad Kissingen gab es Vorzeichen. Beck: "Mitte Oktober 1938 betrat der NSDAP-Kreisleiter Willy Heimbach zusammen mit zwei Parteimitgliedern die Neue Synagoge in Bad Kissingen . Als der christliche Hausmeister Hugo Albert nach dem Grund für den Besuch fragte, erhielt er zur Antwort, dass "die Existenz der Synagoge nur eine Frage der Zeit" sei. Offenbar wollte er eine Bestandsaufnahme dessen machen, was man später zerstören wollte.

Nathan Bretzfelder, Vorsitzender der Kissinger Kultusverwaltung fragte daraufhin beim Verband Bayerischer Israelitischer Gemeinden in München an, was zu tun sei. Eine Antwort ist nicht bekannt. Am 9. November erfuhr die NSDAP-Spitze in München vom Tod von Ernst vom Rath. Das war der willkommene Anlass, um die Aktion in Gang zu setzen.

Die Anordnung, loszuschlagen erreichte Bad Kissingen kurz nach Mitternacht. Allerdings hatte es bereits am Morgen des 9. Novembers auf dem Markt Auseinandersetzungen gegeben. Gegen 0.30 Uhr wurde SA-Obersturmbannführer Emil Otto Walter in der Gaststätte "Saalehof" ans Telefon gerufen. Er solle Gewaltmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung in Bad Kissingen veranlassen. Insbesondere solle er Wohnungseinrichtungen zerstören und die Synagoge in Brand setzen lassen, jedoch so, dass die Ausführenden nicht als Angehörige der SA erkannt würden. Das tat er mit detaillierten Anweisungen.

Kurz darauf ging die Halle des Autovermieters Hermann Holländer in der Maxstraße in Flammen auf, die Israelitische Kinderheilstätte in der Salinenstraße wurde verwüstet, die Synagoge wurde gestürmt und die Einrichtung mit Hilfe mitgebrachter Strohballen verbrannt. Die Feuerwehr rückte zwar aus, durfte aber erst löschen, als nichts mehr zu retten war. Die Brandstifter zogen weiter durch die Stadt und zerschlugen die Fenster sämtlicher jüdischer Wohnungen und Geschäfte und zerstörten die Einrichtung. Zu "Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Plünderungen", so der Polizeibericht am nächsten Tag, sei es nicht gekommen.

Zwischen 3 und 5 Uhr morgens ließ Stadt- und Badkommissar Dr. Conrath auf Grund der nächtlichen Fernschreiben 28 Kissinger Juden festnehmen und ins Amtsgerichtsgefängnis bringen, unter ihnen die beiden Rabbiner Dr. Moses und Dr. Simon Bamberger. Acht von ihnen kamen aufgrund eines Antrags des Gesundheitsamtes wieder frei. Andere wurden aneinander gekettet und in einem Zug, den die Kissinger am Straßenrand mit antijüdischen Schmährufen begleiteten, zum Jüdischen Friedhof geführt, um dort "belastendes Material" auszugraben - tatsächlich waren es nach orthodoxem Ritus beigesetzte Ritualien.

Am 12. November wurden 14 der Männer vom Amtsarzt als "lagerfähig" erklärt und von der Gestapo ins KZ Dachau deportiert. Fünf galten als "nicht lagerfähig" und mussten noch bleiben. Kela Bamberger wurde entlassen, und Hermann Holländer starb nach einem Zusammenbruch. Den materiellen Schaden dieser Nacht bezifferte die Polizei mit 55 000 Reichsmark.

"Das Schicksal der Ritualien in der Synagoge und im Betsaal im jüdischen Gemeindehaus war sehr unterschiedlich", sagte Hans-Jürgen Beck. So manches konnte durch den Einsatz des - christlichen - Hausmeisters Hugo Albert gerettet werden - etwa die wertvollen Thorarollen durch den Austausch gegen unbrauchbar gewordene Rollen. Ein Teil der Kultgegenstände landete 1941 im Würzburger Luitpoldmuseum, ein Teil wurde versteigert, der Rest verstreute sich in alle Welt. Der wertvolle Thoravorhang hängt heute in der Ezra Habonim Synagogue in Chicago. Die Thorarolle von 1700 gelangte ebenfalls in die USA in den Besitz von Rabbiner Michael A. Oppenheimer, der sie 2003 für 50 Jahre für den jüdischen Beetsaal an Bord des Flugzeugträgers USS Ronald Reagan , dem größten Schiff der Welt, zur Verfügung gestellt hat.

Für 8900 RM hätte man die Synagoge wieder herstellen können, aber vor allem 2. Bürgermeister, Kreisamtsleiter und SA-Hauptsturmführer Willy Messerschmidt, drängte auf Abbruch. Ihm ging es um die Beseitigung eines Symbols. So kaufte die Stadt am 26. April 1939 das gesamte Anwesen mit Synagoge und Gemeindehaus für 16500 RM - ein Bruchteil seines Wertes. Bereits am nächsten Tag begann der Abriss der Synagoge. Das Gemeindehaus blieb erhalten, laut Polizeibericht "für städt. Zwecke". Der Großteil des Abbruchmaterials wurde 1939 zum Bau des Bürgermeister- und des Kreisleiterhauses am Staffels verwendet.

Wie die Bevölkerung auf die Pogromnacht reagiert hat, lässt sich nicht genau erfassen. Anfang 1949 wurde vor dem Landgericht Schweinfurt der Prozess gegen 14 Männer eröffnet, die beschuldigt wurden, an den Ausschreitungen in Bad Kissingen beteiligt gewesen zu sein. Die Angeklagten gehörten den verschiedensten sozialen Schichten an, vom Hilfsarbeiter bis zum Justizsekretär. Zehn Angeklagte stammten aus Bad Kissingen , je einer aus Lohr, Stadtsteinach, Hilpoltstein und Buxtehude. Am 21. Dezember 1949 verkündete das Gericht das Urteil: Der Hauptangeklagte Emil Otto Walter wurde wegen Anstiftung zur Brandstiftung lediglich zu einer Gefängnisstrafe von zweieinhalb Jahren und wegen seiner "niedrigen Gesinnung" zu zwei Jahren Ehrenrechtsverlust verurteilt, wobei auf die Strafe noch ein Jahr seiner zwanzigmonatigen Internierungshaft angerechnet wurde. Zwölf Angeklagte - unter ihnen der ehemalige Kreisleiter, der Kreispropagandaleiter sowie der 2. Bürgermeister der Stadt Bad Kissingen - wurden "mangels Schuld" oder "mangels Beweises" freigesprochen, das Verfahren gegen einen Angeklagten wurde ganz eingestellt.

 
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