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MÜNNERSTADT/BERLIN
Die geile Zeit mit der Knesebeck-Gang
Party bei der Knesebeck-Gang: Der 200. Geburtstag der Vereinigten Staaten von Amerika wurde 1976 in der Wohngemeinschaft in Berlin ausgiebig gefeiert. Bernhard Wohlfromm (hintere Reihe, Zweiter von links) war natürlich auch dabei.
Foto: MP | Party bei der Knesebeck-Gang: Der 200. Geburtstag der Vereinigten Staaten von Amerika wurde 1976 in der Wohngemeinschaft in Berlin ausgiebig gefeiert.
Von unserem Redaktionsmitglied Michael Petzold
 |  aktualisiert: 07.11.2019 17:57 Uhr

Wie das halt so ist, wenn man irgendwo neu anfängt, so stand Bernhard Wohlfromm als junger Koch auch in der Riesenküche der Deutschlandhalle in Berlin anfangs meist nur rum und schaute zu.

Den ersten Arbeitstag im September 1972 wird er trotzdem nie vergessen. Denn im Laufe des Tages erteilte ihm sein Chef den Auftrag, zusammen mit der Kaltmamsell einen großen Behälter mit Kaffee in die Garderobe zu bringen. Am Abend stand ein Konzert mit den Rolling Stones auf dem Programm.

In den Katakomben der 2011 abgerissenen Halle ging es vorbei an zahlreichen Bodyguards, von denen einer auf eine Tür deutete: „da rein“. Das, was jetzt folgte, mutet wie eine surreale Sequenz aus einem psychedelischen Film an. Plötzlich stand Mick Jagger vor dem verdutzten Mürschter, stürzte sich auf den abgestellten Kaffeebehälter, drehte den Hahn auf – der Kaffee plätscherte auf den Boden – rannte quer durch den Raum, wieder zurück und drehte den Hahn zu.

Währenddessen trommelte Drummer Charlie Watts in einer Ecke auf ein Schlagzeuggerippe ohne Felle ein. Der Rest der Band mit Keith Richards saß auf einem Sofa und verdrehte die Augen. Schließlich warf Jagger der Kaltmamsell eine Rose entgegen, just in dem Moment, als dessen damalige Frau Bianca den Raum betrat und dem Stones-Chef eine riesige Szene machte.

„Das Ganze hat vielleicht eine Minute gedauert“, erinnert sich Wohlfromm. Abends besorgte ihm der Küchenchef dann einen Logenplatz fürs Konzert. Der hatte nämlich einen Schlüssel für den Aufzug, der bis zur Beleuchterbühne führte. Gute Beziehungen pflegte der Mürschter auch zum Garderobermeister. „Ich hatte immer Gelegenheit zuzuschauen“, sagt Wohlfromm, den daheim alle nur Bernie nennen.

Ike & Tina Turner, Yes, Amon Düül, Tangerine Dream – Bernie saß gewissermaßen immer in der ersten Reihe. Am meisten beeindruckt hat ihn aber Pink Floyd, die akustisch Düsenjäger durch die Halle jagten und mit einem riesigen Tross aufkreuzten. „120 halbe Hähnchen haben wir für die gemacht.“

Die frühen 70er Jahre waren eben eine wilde Zeit und Berlin zu diesem Zeitpunkt noch um ein gutes Stück wilder. Die Insellage inmitten des real existierenden Sozialismus der DDR machte die Stadt mit der Mauer auf der einen Seite zu einem riesigen Gefängnis, auf der anderen Seite war die besondere Situation der ideale Nährboden für Subkulturen aller Art. Zudem floss aus der Bundesrepublik jede Menge Geld in die Stadt.

Umzugskostenübernahme, höhere Löhne, Mietbeihilfen, Überbrückungsgeld und sonstige Vergünstigungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Berlin boomte. Und dann gab es dann noch jene jungen Leute, die sich dem Zugriff der Bundeswehr entziehen wollten – gut 50 000 sollen es bis zum Mauerfall 1989 gewesen sein. Denn wer mit erstem Wohnsitz in Berlin gemeldet war, der musste wegen des Viermächtestatus der Stadt nicht einrücken. Zu diesen gehörte auch Bernie. Der hatte gerade seine Kochlehre im Bad Kissinger Hotel Bristol beendet und keine Lust, wie er heute freimütig zugibt, für 150 Mark Wehrsold im Monat strammzustehen.

„Im ersten Monat habe ich so viel verdient, wie ich für die gesamte Bundeswehrzeit bekommen hätte.“ Damals betrug die Wehrpflichtzeit noch 15 Monate. Noch nicht einmal 18 Jahre war Wohlfromm, als er 1972 nach Berlin ging. Auch Amerikaner, die nicht zum Kriegseinsatz nach Vietnam wollten, und Engländer, die keinen Bock auf Army hatten, tummelten sich in der Spreemetropole.

Ebenso bunt zusammengewürfelt war die Wohngemeinschaft, in die Bernie einzog und die in der Szene bald nur noch die Knesebeck-Gang genannt wurde. Der Name wurde von der zwischen Kurfürstendamm und Savigny-Platz gelegenen Straße abgeleitet, in der die 300 Quadratmeter große Herrschaftswohnung lag, die sich die sechs Bewohner teilten. Als da waren: der kenianische Student Alwell, Roger aus Detroit, Rebecca aus Los Angeles, Steven aus England, Bernie aus Münnerstadt und ein Herr namens William Theodor von Minden aus San Francisco. „Der kam direkt aus der Hippie-Kultur“, erzählt Wohlfromm. Gelebtes Multi-Kulti. Ihren Lebensunterhalt verdienten sich die Amis und der Engländer mit verschiedenen Jobs beim britischen Konsulat. Sechs Jahre wohnten die Leute zusammen, Kontakte zu Einzelnen gibt es noch heute. „Es war eine geile Zeit“, sagt Bernie, der sich an keinen einzigen Streit erinnern kann – mit vielen Partys und jeder Menge Spaß. Schließlich gab es in Berlin keine Sperrstunde. „Damit musste man erst mal klarkommen.“ Vor allem, wenn man aus der tiefsten unterfränkischen Provinz kam.

Alles spielte sich in ganz anderen Dimensionen ab – auch Wohlfromms Berufsleben. In der Deutschlandhalle fanden nicht nur Konzerte, sondern auch andere Veranstaltungen statt. Wie etwa das Sechs-Tage-Rennen. „Da war dann der Teufel los“, sagt Bernie. 5000 Liter Erbsensuppe, 3000 Buletten und rund 10 000 Hackepeter-Brötchen hatte das zwölfköpfige Köche-Team mit seiner Helferbrigade tagtäglich fertigzustellen.

400 Essen pro Tag

Im Normalbetrieb wurden in den Restaurationsbetrieben der Halle gut 400 Essen pro Tag ausgegeben, bei Riesenveranstaltungen wie „Jugend trainiert für Olympia“ bis zu zehnmal so viel. Wohlfromm hatte in seiner Berliner Zeit von 1972 bis 1980 noch andere Stellen in Berlin, doch keine ist ihm so in Erinnerung geblieben wie die Arbeit in der Deutschlandhalle.

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Idyll mit Kaffeekanne: Bernhard Wohlfromm in den 70er-Jahren in der Küche der Wohngemeinschaft.
Foto: Mp | Idyll mit Kaffeekanne: Bernhard Wohlfromm in den 70er-Jahren in der Küche der Wohngemeinschaft.
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